Christoph Derschau, „Traumtrip“ – ein Liebesgedicht, das seinen Sinn erst im Auge des Betrachters entfaltet (Mat5225)

Worum es hier geht:

Es gibt den schönen Satz, dass Kunst im Auge des Betrachters entstehe. Das heißt, dass der Künstler letztlich etwas Schönes bereitstellt, das aber mehr oder weniger unfertig ist. Es wird damit zur Anregung bzw. Herausforderung für den Betrachter.

Das gilt besonders auch für die „schöne“ Literatur, also eine, die nicht Wahrheiten verkünden will, sondern etwas ausdrückt, worauf dann der Leser mit eigenen Ideen antwortet. Dabei entsteht eine Kombination von Ausgangstext und Interpretation.

Zu unterscheiden ist dabei allerdings zwischen einer „freien“  Interpretation, bei der man ein Gedicht auch ganz bewusst falsch verstehen darf, und einer in der Schule. Dort kommt es nämlich darauf an zu unterscheiden zwischen dem, was jeder sehen und verstehen kann, und dem, was gewissermaßen die Lücken des Ausgangstextes füllt. Dabei sollte nicht wild spekuliert werden. Vielmehr geht es um Ideen, die auch von den anderen – und in einer schriftlichen Arbeit von der Lehrkraft – akzeptiert werden kann.

Im Folgenden wollen wir dieses Zusammenspiel von Gedichttext und nachvollziehbaren Erklärungshypothesen am Beispiel des Gedichtes „Traumtrip“ von Christoph Derschau aufzeigen.

Zu finden ist der Text z.B. hier.

Versuch einer Analyse und Interpretation

Die induktive Methode

Der sicherste Weg zu einem Ergebnis, das von anderen akzeptiert werden kann, ist: Das Gedicht Schritt für Schritt durchzugehen und dabei:

  • zu erläutern, was das lyrische Ich da eigentlich von sich gibt. „Erläutern“ heißt so viel wie „klären“ und bedeutet, dass man den Text nicht einfach wiedergibt, sondern überlegt, was das eigentlich ist, was da gesagt wird: Wird eine Situation beschrieben oder ein Gefühl? Wird vielleicht eine Forderung erhoben oder eine allgemeine Lebensweisheit präsentiert?
  • unklare Stellen möglichst so zu erklären, dass anderen „ein Licht aufgeht“ und sie sagen: Ja, so könnte das gemeint sein.

Diese Vorgehensweise nennt man „induktiv“, weil man von unten (Zeile für Zeile) nach oben (Erkenntnis, These) geht.

Beim Gegenstück, dem „deduktiven“ Verfahren äußert man zunächst das fertige Ergebnis als These und begründet sie dann.

Es dürfte klar sein, dass das induktive Verfahren für Schülis günstiger ist, weil sie direkt ihren Verstehensprozess beschreiben können.

Das entspricht auch der Idee der Leserlenkung, die in einem Gedicht gegeben ist. Am besten beschreibt man also, was das Gedicht mit einem macht.

Überschrift und Strophe 1
  • Als erstes teilt einem das Gedicht mit, dass es im Folgenden um einen „Traumtrip“ geht, also eine kurze Reise an einen Ort, an dem man immer schon mal sein wollte.
    • Allerdings Vorsicht: Das könnte natürlich auch „poetisch“, vielleicht ironisch gemeint sein. Dichter spielen nämlich ganz gerne mit den Lesern und führen sie erst mal in die Irre.
  • „Gestern verreiste ich“ ist eine Information in Form eines Rückblicks.
  • „in die Stille / deiner Augen“ gibt das Ziel an. Hier merkt man sofort, dass das bildhaft gemeint ist. Außerdem haben wir hier schon die erste Stelle, bei der das komplette Verständnis erst vom Leser hergestellt werden muss.
    • Also ist der Versuch einer Veranschaulichung angesagt. So etwas ist natürlich eine „Hypothese“, also ein vorläufige Versuch, dem Text einen nachvollziehbaren Sinn zugeben.
    • Beachten sollte man, dass das lyrische Ich sich hier unterwegs fühlt, auf ein Gegenüber zugeht – und zwar über die Augen möglichst tief ins Innere der Gefühle und Gedanken.
    • Dieses Gegenüber ist „still“, wartet also ab, es gibt erst mal keine Reaktion.
    • Jetzt kommt es darauf an, wie das Gegenüber reagiert, ob es diese Annäherung zulässt oder vielleicht als Übergriff abwehrt.
    • Man merkt hier übrigens, dass das Gedicht eine Situation darstellt, die sich in verschiedene Richtungen weiterentwickeln kann.
Strophe 2
  • Das Gedicht beschreibt dann – weiterhin im Bild der Reise, wie es an seinem Ziel angekommen ist,
  • dann aber feststellen musste,
  • dass es sich „verfahren“ hatte.
  • Wichtig ist, dass man an einer solchen Stelle wirklich darüber nachdenkt, was das zu diesem Sprech-Zeitpunkt bedeutet:
    • Man ist nicht am richtigen Ziel angekommen.
    • Das kann viele Gründe haben.
Strophe 3
  • Genau darauf geht das lyrische Ich dann ein:
  • Wiederum im Bild der Reise wird mit „Sehnsucht“
  • ein Ort angegeben, der anscheinend dazu geführt hat, dass das lyrische Ich bei dem Gegenüber mit den stillen Augen sein Ziel nicht erreicht hat.
Aussagen / Intentionalität
  • Zunächst muss man schauen, welche Signale im Gedicht eine Rolle spielen:
    • Da ist zunächst das lyrische Ich, das sich auf den Weg macht zu einem wohl geliebten Gegenüber,
    • dieses aber verfehlt,
    • weil es „mitten“ in „Sehnsucht“ war.
    • Das heißt: Die Sehnsucht war das Problem, das die Begegnung scheitern ließ.
    • Näheres erfährt man als Leser nicht.
      • Eine Möglichkeit wäre, dass das lyrische Ich sich im Gefühlssturm der „Sehnsucht“ (die ja auch eine „Sucht“ ist) falsche Vorstellungen vom Gegenüber gemacht hat.
      • Es kann aber auch sein, dass es zu stürmisch war angesichts der „Stille“ der Augen des Gegenübers. Das könnte darauf hindeuten, dass dieses gar nicht solche oder so viele Gefühle für das lyrische Ich hatte. Die sind jetzt vielleicht sogar in Ablehnung umgeschlagen.
    • Überhaupt fällt die Einseitigkeit der Darstellung auf. Es ist beim lyrischen Ich nur von „Sehnsucht“ die Rede – wonach genau, bleibt offen. Möglicherweise war das Gefühl sehr oberflächlich, vordergründig.
  • An dieser Stelle sollte man die Überschrift des Gedichtes erneut einbeziehen:
  • Möglicherweise beschreibt sie die Situation bzw. Erfahrung am Ende.
  • Das heißt: Das lyrische Ich war auf einem Traumtrip, der enttäuscht worden ist.
Frage des Sinns
  • Die Frage nach dem Sinn bedeutet immer, dass man die Aussagen des Gedichtes auf etwas anderes bezieht.
  • Hier ist jeder Leser selbst gefragt.
  • Weiter oben haben wir schon Situationen angedeutet, zu denen dieses Gedicht passen könnte.
    • Wir haben und z.B. an eine Situation in Liebesfilmen erinnert, die häufig vorkommt. Einer der Partner überfällt in seiner „Sehnsucht“ nach dem nächsten Schritt in der Beziehung die Partnerin (oder auch umgekehrt) mit einer gemieteten oder gar gekauften Wohnung. Dabei lebte die andere Seite noch in der „Stille“ des Erst-mal-so-alles-Lassen“ und will dabei auch bleiben.
    • Noch schlimmer ist es möglicherweise, wenn die eine Seite schon bei einem ersten Treffen die „Stille“ in den Augen der anderen Seite übersieht und durch die eigene „Sehnsucht“ verführt wird, sprachlich oder auch in einem verfrühten Kuss zu weit zu gehen.
  • Wir hoffen, dass diese Andeutungen reichen, um das Gedicht für sich ggf. nutzen zu können …

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Wir hoffen, dass deutlich geworden ist, dass dieses Gedicht gerade wegen seiner Kürze ein besonders gutes Beispiel ist für den Satz, dass erst das Mitdenken des Lesers zu einer Abrundung im Hinblick auf Aussage und Sinn führt.

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