Lars Krüsand, „Deutschunterricht aus der Sicht eines Autors“ (Mat8180)

Worum es hier geht:

Im Folgenden zeigt jemand, der auf unseren Seiten schon Gedichte und Kurzgeschichten veröffentlicht hat,

https://textaussage.de/lars-kruesand-sammlung-der-texte-eines-behelfsschriftstellers

wie er sich den Deutschunterricht wünscht.

Dabei geht es ihm darum, dass mehr mit den Augen der Schriftsteller, aber auch der „normalen“ Leser und Leserinnen auf die Texte geschaut wird als mit den Augen der Wissenschaft.

Wir fügen jeweils zu den Abschnitten eine Hörfassung hinzu, die die vom Verfasser beabsichtigte „Musik“ der Passagen deutlich werden lässt.

Das Plädoyer des „Behelfs-„Schriftstellers

Lars Krüsand

Was ein Schriftsteller sich vom Deutschunterricht wünscht

1. Wer hier schreibt:

Ich gebe zu, ich bin kein großer Schriftsteller, aber ich veröffentliche zumindest Kurzgeschichten und auch Gedichte. Außerdem bin ich auch noch Deutschlehrer gewesen – ich kenne mich also in beiden Bereichen aus.
Am Ende dieses Plädoyers können Interessierte nachlesen, warum ich mich als „Behelfsschriftsteller“ nenne, aber im Unterschied zu den meisten Deutschlehrkräften eben auch „schreibe“, also die Praxis kenne.
Ansonsten bin ich hier nicht auf Werbung aus – es zählen nur Erfahrungen und Argumente.

2. Was mich als Schriftsteller am Deutschunterricht stört:

Es geht hier nicht gegen die Deutschlehrkräfte – sie leiden oft genug mit, wenn sie mit den kultusministeriellen Vorgaben für den Umgang mit Literatur konfrontiert werden. Die muss man natürlich auch beachten.
Aber man muss Schülis (mein Versuch, alle möglichen Lesis dieses Schreibens fair und richtig anzusprechen) bei Gedichten nicht gleich mit Forderungen erschrecken:

    • Analysiere das folgende Gedicht, indem du
    • zunächst die Form bestimmst,
    • dann einen Einleitungssatz mit Angabe des Themas formulierst,
    • den Inhalt der Strophen beschreibst,
    • und die sprachlichen Mittel herausarbeitest.
    • Zeige anschließend auf, welcher Epoche das Gedicht angehören könnte.

3. Als (Behelfs-) und sicher auch als richtiger Schriftsteller wünscht man sich stattdessen,

  • dass die Schülis sich erst mal einfach am Gedicht erfreuen oder auch darüber ärgern dürfen. Denn es gibt doch den schönen Satz: „Kunst entsteht erst voll und ganz im Auge des Betrachters“ oder so ähnlich. Ein Gedicht ist also erst mal ein Angebot. Das einzige, was die Schule für den Start verlangen kann, dass man auf das Gedicht möglichst sachlich, fair und auf Austausch bedacht reagiert.
  • Also erst mal eine Runde mit den beiden einfachsten Analyse- und Interpretationsfragen:
    • Was fällt mir auf?
    • Was fällt mir dazu ein?
  • Probieren wir das mal am Gedicht eines Kollegen aus, der im Unterschied zu mir richtig berühmt geworden ist: Erich Kästner, „Saldo mortale“.
    Wir haben es zum Beispiel hier gefunden:
    https://www.deutschelyrik.de/saldo-mortale.html
  • Wenn ich noch Deutschlehrer wäre – ich bin glücklicherweise inzwischen in Pension, bin aber noch immer in dem Bereich aktiv, dann würde ich zum Beispiel Folgendes erwarten:
    • Schüli1:
      Das hört sich am Anfang unglaublich cool an, obwohl sich da jemand den Tod wünscht.
    • Schüli2:
      Es wird am Anfang so getan, als wäre das etwas ganz Normales, wenn jemand im letzten Moment vor dem Selbstmord bewahrt worden ist.
    • Schüli3:
      Im Normalfall würde man vielleicht einen Dankesbrief erwarten.
      Dann wird es voll krass, wenn er die Retter als „Esel“ anredet. Das ist doch voll die Provokation. Vielleicht kommen sie beim nächsten Mal nicht mehr vorbei.
    • Schüli4:
      Das mit dem Turnen verstehe ich gar nicht.
    • Schüli5:
      Warum jammert der Typ rum, dass die Rettungskräfte ihm die Steuern nicht bezahlt haben.
      Wieso haben sie ihm seinen Job geklaut?
      Das ist ja voll langweilig, diese Klagerei. Das geht ja endlos so weiter.
    • Und irgendwann kommt jemand auf den Gedanken:
      Die Klagen und Vorwürfe richten sich wahrscheinlich gar nicht an die Rettungskräfte, sondern es geht um die Leute, die den Mann in eine Situation gebracht haben, aus der er keinen Ausweg mehr wusste.
    • An der Stelle könnte die Lehrkraft dann zum ersten Mal das heikle Thema „sprachliche Mittel“ ansprechen und unschuldig fragen:
      Warum hat Kästner den Mann also wohl die endlose Abfolge von Klagen und Vorwürfen raushauen lassen?
    • Und dann kommt einer auf den Gedanken, dass dadurch die Quälerei ausgedrückt werden soll, die er erfahren hat.
    • Da kann man doch schon mal festhalten, dass dieser Autor einen richtig guten Einfall gehabt hat.
    • An dieser Stelle könnte die Situation reif sein für die Frage: „Was hat Kästner sich denn noch einfallen lassen?“
      • Und dann kommt man noch mal auf die unglaubliche Sachlichkeit des Anfangs zu sprechen.
      • Das Wort „unternehmen“, d.h. der Mann musste für seinen Selbstmord eine Art Ein-Mann-Startup für sich erfinden.
      • Dann der Gegensatz zwischen dem aufgeregten „Retten“ und dem friedlichen Schlafen des Mannes.
      • Dann die seltsamen Turnübungen, hört sich normal an, aber nicht bei einem Schlafenden – und es wird dann ja auch unangenehmer. Hier muss die kluge Lehrkraft nur noch fragen: „Was machen denn Rettungskräfte, wenn jemand nicht mehr atmet?“
      • Warum verwendet Kästner Wörter wie „stehlen“ und „Diebe“?
      • Was soll das Wortspiel: „krank“ – „gekränkt“?
      • Was heißt hier: „Da wird aus Lebensrettung Mord.“
      • Was hat Kästner sich für den Schluss einfallen lassen?
      • Warum die Tochter da unten?
    • Und dann könnte man noch die Frage stellen, was denn der größte Einfall des Dichters war. Wie ist er wohl auf dieses Gedicht gekommen?

4. Warum würde mir als Schriftsteller so ein Deutschunterricht gefallen?

  • Weil die Schülis nicht mehr mit einem Gedicht gequält werden,
    sondern sie werden Teilnehmer eines Abenteuers.
  • Denn das Schreiben eines Gedichtes oder auch einer Kurzgeschichte ist genau das. Wenn man als Schriftsteller Glück hat, dann hat man eine Idee – und die möchte man möglichst originell und vor allem spielerisch umsetzen.
  • Und dann entsteht im Kopf der Schülis, die gewissermaßen das Gedicht als einen Tatort betrachten, langsam die Tat, die zum Gedicht geführt hat.
    • Kästner liest in der Zeitung von einem Mann, der im letzten Moment vom Selbstmord abgehalten wurde und anschließend die Rettungskräfte beschimpft.
    • Dann überlegt er, warum der Mann denn sterben wollte.
    • Und es ist die Notzeit der Weltwirtschaftskrise um 1931 (das kann man sich ruhig sagen lassen).
    • Und dann lässt Kästner sich alle möglichen Sachen einfallen, die diesem Mann die Lust auf das Leben genommen haben.
    • Jetzt muss er nur noch auf die Idee mit dem Brief kommen
    • Und sich ein paar schöne Sachen einfallen lassen, weil Gedichte eben zu einem Schmuckstück werden sollen, mit denen man einen Verleger, die Kolleginnen und Kollegen und schließlich die Schulbuchautoren beeindrucken kann.

5. Was vielleicht nicht jedem sofort aufgefallen ist:

  • So ein Umgang mit einem Gedicht ist keine Quälerei, sondern ein Abenteuerspiel, bei dem man einem Dichter oder einer Dichterin auf die Schliche kommen will.
  • Man muss nur genau hinsehen und sich Gedanken machen, was damit wohl gemeint ist.
  • Hinterher hat man den Inhalt verstanden
  • und auch die „literarischen“ Mittel erkannt, die das Gedicht zu etwas Besonderem
  • Und wenn dann unbedingt jemand von der Regierung auch noch die Wörter
    Metapher, Anapher, Antithese oder sogar Anakoluth hören oder lesen will. Dann macht ihnen die Freude – sie haben anscheinend keine andere.
  • Aber lasst euch Gedichte nicht madig machen.
  • Ich tue das jedenfalls nicht: Das „literarische“ Schreiben ist anstrengend, weil man dabei etwas Schönes entstehen lassen will – aber das gehört dazu, wenn man hinterher begeistert sein will und andere begeistern will.

Und für die, die immer noch mit Gedichten nichts anfangen können:
Für jeden Sänger und seinen Songschreiber gilt das Gleiche.
Die leiden auch beim Machen und sind überglücklich, wenn das Publikum in Schwung gerät.

Weitere Infos, Tipps und Materialien – bsd. für Kritiker 😉