Endlich Durchblick: Literaturepoche Poetischer Realismus und Naturalismus (Mat4858)

Worum es hier geht:

Die literarische Epoche des „Poetischen Realismus“ und des „Naturalismus“ sind literarische Strömungen, die auf die Zeit des Idealismus folgen.

Um Goethe und Schiller herum – vom Sturm und Drang bis zur Romantik gab es eine Literatur, die sich vor allem an Idealen orientierte.

Das ändert sich dann, wie man am besten an Heinrich Heine sehen kann. Der sprach vom „Ende der Kunstepoche“. Damit meinte er die Zeit, in der man glaubte, dass die Kunst die Menschen bessern könnte.

In der Zeit des Vormärz wandte man sich stark der Politik zu.

Jetzt wird man zurückhaltender und konzentriert sich stärker auf die ganze Breite der Wirklichkeit.

Im Realismus bemüht man sich dabei noch um eine Art „Aufhübschen“ – wie man es von Fotos gewöhnt ist. Der Naturalismus wendet sich dann gewissermaßen der nackten Wirklichkeit zu – in all ihrer Ärmlichkeit.

Zunächst ein Schaubild

Genaueres zum „poetischen“ Realismus (1850-1890)

  1. Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 zogen sich viele Schriftsteller aus dem Bereich des unmittelbar Politischen zurück, ihr Interesse an den realen Verhältnissen blieb aber.
  2. Allerdings wollten sie die nicht ungeschminkt darstellen, sondern in einem künstlerischen Licht.
    Sehr schön dargestellt wird das von Theodor Fontane:
    https://textaussage.de/poetischer-realismus-position-fontane
  3. Deshalb spricht man auch vom „poetischen Realismus“.
  4. Andere nennen diese Strömung „bürgerlichen Realismus“, weil sie vor allem von gutbürgerlichen Kreisen getragen wurden.
  5. Zu diesen gehörten zum Beispiel Theodor Storm mit seinen Novellen (u.a. „Der Schimmelreiter“) oder Theodor Fontane mit seinen Romanen (z.B. „Effi Briest“).

Beispiel 1

Ein gutes Beispiel ist das Gedicht „Der Sommernacht“ von Gottfried Keller:
Zu finden ist es z.B. hier.

Es wallt das Korn weit in die Runde
Und wie ein Meer dehnt es sich aus;
Doch liegt auf seinem stillen Grunde
Nicht Seegewürm noch andrer Graus;

Da träumen Blumen nur von Kränzen

Und trinken der Gestirne Schein.
O goldnes Meer, dein friedlich Glänzen
Saugt meine Seele gierig ein!

  • Es geht um eine sicher beschönigende Beschreibung einer Landschaft
  • und die von ihr hervorgerufenen Gefühle des Lyrischen Ichs.

In meiner Heimat grünen Talen,
Da herrscht ein alter schöner Brauch:
Wann hell die Sommersterne strahlen,
Der Glühwurm schimmert durch den Strauch,
Dann geht ein Flüstern und ein Winken,
Das sich dem Ährenfelde naht,
Da geht ein nächtlich Silberblinken
Von Sicheln durch die goldne Saat.

  • Auch hier wieder Realität, aber eine, die in Ordnung ist.

Das sind die Bursche jung und wacker,
Die sammeln sich im Feld zuhauf
Und suchen den gereiften Acker
Der Witwe oder Waise auf,
Die keines Vaters, keiner Brüder
Und keines Knechtes Hilfe weiß –
Ihr schneiden sie den Segen nieder,
Die reinste Lust ziert ihren Fleiß.

  • Hier merkt man, wie soziales Elend zwar erwähnt wird,
  • aber es wird positiv bewältigt durch den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Schon sind die Garben fest gebunden
Und rasch in einen Ring gebracht;
Wie lieblich flohn die kurzen Stunden,
Es war ein Spiel in kühler Nacht!
Nun wird geschwärmt und hell gesungen
Im Garbenkreis, bis Morgenluft
Die nimmermüden braunen Jungen
Zur eignen schweren Arbeit ruft.

  • Alles geht leicht und flott von der Hand.
  • Dann wird ein bisschen gefeiert
  • und dann geht es an die eigene Arbeit.

Es dürfte deutlich geworden sein, wie hier die Wirklichkeit dargestellt und gleichzeitig beschönigt wird – alles wirklich Elende, Schmerzliche wird ausgeblendet.

Beispiel 2

Dann ein Beispiel aus dem Roman „Effi Briest“ von Theodor Fontane. Eine junge Frau heiratet zu früh, macht sich schließlich und andere unglücklich. Sie kehrt dann ins Elternhaus zurück und lebt sich da langsam, aber sicher ab.
Interessant die Darstellung ihres Todes. Das Zitat ist z.B. hier zu finden.

Frau von Briest sah, daß Effi erschöpft war und zu schlafen schien oder schlafen wollte. Sie erhob sich leise von ihrem Platz und ging. Indessen, kaum daß sie fort war, erhob sich auch Effi und setzte sich an das offene Fenster, um noch einmal die kühle Nachtluft einzusaugen. Die Sterne flimmerten, und im Parke regte sich kein Blatt. Aber je länger sie hinaushorchte, je deutlicher hörte sie wieder, daß es wie ein feines Rieseln auf die Platanen niederfiel. Ein Gefühl der Befreiung überkam sie. »Ruhe, Ruhe.«

  • Der Tod wird hier nicht einmal ansatzweise beschrieben. Die junge Frau erlebt ihn mit einem „Gefühl der Befreiung“.

Es war einen Monat später, und der September ging auf die Neige. Das Wetter war schön, aber das Laub im Parke zeigte schon viel Rot und Gelb, und seit den Äquinoktien, die drei Sturmtage gebracht hatten, lagen die Blätter überallhin ausgestreut. Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts als »Effi Briest« und darunter ein Kreuz. Das war Effis letzte Bitte gewesen: »Ich möchte auf meinem Stein meinen alten Namen wiederhaben; ich habe dem andern keine Ehre gemacht.« Und es war ihr versprochen worden.

  • Dann einfach eine erzählerische Pause – das Wetter ist „schön“ und es gibt „eine kleine Veränderung“, nämlich das Grab der Tochter.

Mehr muss und kann man dazu nicht sagen. Es geht um Realität, aber sie wird dargestellt ohne all das Elende, Hässliche, das auch dazugehört.

Beispiel 3: Die Versöhnungsszene aus „Kleider machen Leute“

In dieser Szene wird in der Figur Wenzels das romantische Konzept ziemlich ironisch, weil übertrieben präsentiert.

Näher dargestellt ist diese Passage in:
https://textaussage.de/schnell-durchblicken-versoehnungsgespraech-nettchen-wenzel-kleider-machen-leute

  • Wir greifen hier mal Wenzels z.T. dunkel-romantische Zukunftsvisionen heraus,
    • „Ich wäre mit dir in die weite Welt gegangen,
    • und nachdem ich einige kurze Tage des Glückes mit dir gelebt,
    • hätte ich dir den Betrug gestanden und mir gleichzeitig den Tod gegeben.
    • Du wärest zu deinem Vater zurückgekehrt, wo du wohl aufgehoben gewesen wärest und mich leicht vergessen hättest.
    • Niemand brauchte darum zu wissen; ich wäre spurlos verschollen. –
    • Anstatt an der Sehnsucht nach einem würdigen Dasein, nach einem gütigen Herzen, nach Liebe lebenslang zu kranken«, fuhr er wehmütig fort,
    • wäre ich einen Augenblick lang groß und glücklich gewesen und hoch über allen, die weder glücklich noch unglücklich sind und doch nie sterben wollen!
    • O hätten Sie mich liegengelassen im kalten Schnee, ich wäre so ruhig eingeschlafen!“
  • auf die Nettchen mit einem überaus realistischen Plan antwortet.
    • „Nun wollen wir gerade nach Seldwyl gehen und den Dortigen, die uns zu zerstören gedachten, zeigen, daß sie uns erst recht vereinigt und glücklich gemacht haben!“
    • „Wir wollen nach Seldwyla gehen und dort durch Tätigkeit und Klugheit die Menschen, die uns verhöhnt haben, von uns abhängig machen!“
  • Allerdings zeigt sich zumindest in der Liebe bei ihr auch ein hohes Maß an Romantik:
    • „Ich will dich nicht verlassen!
    • Du bist mein,
    • und ich will mit dir gehen trotz aller Welt!“
    • „Wie du bist, ein armer Wandersmann, will ich mich zu dir bekennen und in meiner Heimat allen diesen Stolzen und Spöttern zum Trotze dein Weib sein!“

Nun ein Schaubild zur Epoche des Naturalismus

Genaueres zum Naturalismus (1880-1900)

  • Während die Literatur wie ein Gemälde künstlerisch gestaltet wurde, wollten die Dichter des Naturalismus die Wirklichkeit ungeschminkt widergeben.
  • Ein typisches Beispiel ist das Drama „Die Weber“ von Gerhart Hauptmann, in dem das Leiden dieser Menschen und ihre Ausbeutung und der sich daraus ergebende Aufstand präsentiert werden – mit sehr ausführlichen Regiebemerkungen und realitätsnaher Dialektsprache.

Hier die Regieanweisung zum I. Akt des Dramas, die wir zu Demo-Zwecken in ihre Einzelteile zerlegen. Zu finden ist sie z.B. hier.

Zunächst wird das genau beschrieben, was die Bühnenausstattung betrifft.

  1. Ein geräumiges, graugetünchtes Zimmer in Dreißigers Haus zu Peterswaldau.
  2. Der Raum, wo die Weber das fertige Gewebe abzuliefern haben.
  3. Linker Hand sind Fenster ohne Gardinen, in der Hinterwand eine Glastür, rechts eine ebensolche Glastür, durch welche fortwährend Weber, Weberfrauen und Kinder ab- und zugehen.
  4. Längs der rechten Wand, die wie die übrigen größtenteils von Holzgestellen für Parchent verdeckt wird, zieht sich eine Bank, auf der die angekommenen Weber ihre Ware ausgebreitet haben.
  5. In der Reihenfolge der Ankunft treten sie vor und bieten ihre Ware zur Musterung.
  6. Expedient Pfeifer steht hinter einem großen Tisch, auf welchen die zu musternde Ware vom Weber gelegt wird.
  7. Er bedient sich bei der Schau eines Zirkels und einer Lupe.
  8. Ist er zu Ende mit der Untersuchung, so legt der Weber den Parchent auf die Waage, wo ein Kontorlehrling sein Gewicht prüft.
  9. Die abgenommene Ware schiebt derselbe Lehrling ins Repositorium. Den zu zahlenden Lohnbetrag ruft Expedient Pfeifer dem an einem kleinen Tischchen sitzenden Kassierer Neumann jedesmal laut zu.
  10. Es ist ein schwüler Tag gegen Ende Mai.
  11. Die Uhr zeigt zwölf.

Es folgt eine genaue Beschreibung der Menschen, die gezeigt werden:

  1. Die meisten der harrenden Webersleute gleichen Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu erwarten haben.
  2. Hinwiederum haftet allen etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger Eigentümliches an, der, von Demütigung zu Demütigung schreitend, im Bewußtsein, nur geduldet zu sein, sich so klein als möglich zu machen gewohnt ist.
  3. Dazu kommt ein starrer Zug resultatlosen, bohrenden Grübelns in aller Mienen.
  4. Die Männer, einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeisterlich, sind in der Mehrzahl flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen mit schmutzigblasser Gesichtsfarbe: Geschöpfe des Webstuhls, deren Knie infolge vielen Sitzens gekrümmt sind.
  5. Ihre Weiber zeigen weniger Typisches auf den ersten Blick; sie sind aufgelöst, gehetzt, abgetrieben – während die Männer eine gewisse klägliche Gravität noch zur Schau tragen – und zerlumpt, wo die Männer geflickt sind.
  6. Die jungen Mädchen sind mitunter nicht ohne Reiz; wächserne Blässe, zarte Formen, große, hervorstehende, melancholische Augen sind ihnen dann eigen.

Noch ein Gedicht als Beispiel:

Das Folgende stammt aus „Phantasus“ von Arno Holz:
Zu finden ist es z.B. hier.

Ihr Dach stiess fast bis an die Sterne,
Vom Hof her stampfte die Fabrik,
Es war die richtge Mietskaserne
Mit Flur- und Leiermannsmusik!
Im Keller nistete die Ratte,
Parterre gab’s Branntwein, Grogk und Bier,
Und bis ins fünfte Stockwerk hatte
Das Vorstadtelend sein Quartier.

Ausblick

Auf diese sich an der Realität orientierenden Epochen folgt dann mit dem Expressionismus eine Strömung, die die Wirklichkeit vor allem benutzt, um Gefühle auszudrücken.

Näheres findet sich hier:
https://textaussage.de/expressionismus-themenseite

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

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