Die Deutschen nach 1945 – Fiktion und Realität Beispiel Koeppen Roman „Tauben im Gras“ (Mat8055)

Literatur hat ihren Wert unter anderem auch daran, dass sie die Wirklichkeit ihrer Zeit auf besondere Weise „fassbar“ macht – das gilt natürlich besonders für den Roman.

Unabhängig von der Frage der Fiktionalität darf dabei natürlich schon untersucht werden, inwieweit das gebotene Bild differenziert oder vielleicht sogar tendenziös ist.

Koeppens Roman „Tauben im Gras“ ist ein besonders interessantes Beispiel, denn es gibt kaum einen Roman, der einen bestimmten Zeit-Zustand so vielfältig zu erfassen versucht und zugleich den Eindruck erweckt, dass er bestimmte Aspekte und Strömungen auch ausspart.

Auf dieser Seite wird versucht, ein paar Hinweise und Tipps für die zu geben, die zum Beispiel ein Referat zur Situation der Deutschen nach 1945 vorbereiten wollen – natürlich mit dem Ziel des Abgleichs mit der fiktiven Realität des Romans.

In einem ersten Schritt könnte zusammengestellt werden, welche Akzente Koeppens Roman setzt:

Die Zitatangaben beziehen sich auf die suhrkamp taschenbuch Ausgabe (Band 601), erschienen 1980

Die Realität des Romans 1a: Uneinsichtigkeit der Defensiv-Variante

Da geht es zum Beispiel um die Uneinsichtigkeit der Frau Behrend, die alles, was von den Siegern kommt wie ein Verbrechen an Unschuldigen betrachtet.

Die Realität des Romans 1b: Uneinsichtigkeit in der Offensiv-Variante

Es gibt natürlich auch die, die nicht nur unter den Verlusten leiden und den Siegern böse sind, es gibt auch die, die die Aggression Hitler-Deutschlands gar nicht so schlimm finden und gewissermaßen auf die nächste Runde warten.

(S. 183)

Die Realität des Romans 2: Fortdauer der Heldenverehrung

Schon auf der zweiten Seite des Romans ist die Rede davon, dass die Illustrierten „von den Erinnerungen der Flieger und Feldherren“ lebten.

Die Realität des Romans 3: Fortdauer der NS-Erziehung

Eins der schlimmsten Erbe der Nazi-Zeit ist sicher ihr intensives Eindringen in die Köpfe und Herzen der jungen Menschen, was ja auch Hitlers explizites Ziel war.

Im Roman wird es vor allem am Beispiel von Wiggerl, Schorschi, Bene, Kare und Sepp deutlich, die erneut „auf den Trommler“ warten.

Die Realität des Romans 4: Das Verstummen angesichs eigenen Leidens

Am Beispiel von Philipp wird gezeigt, dass viele Deutsche „mit der Zeit nicht zurecht“ kamen, weil sie voller Eindrücke von Tod und Vernichtung auch im Bereich des eigenen Volkes sind.

Die Realität des Romans 5: Die Last der eigenen Taten

Am Beispiel des Dienstmanns Josef kann man sehen, wie sehr der unter dem Irrsinn der Kriegserlebnisse immer noch leidet (S. 137)

Ansätze einer positiven Gegenwelt im Roman
Es gibt aber zumindest auch Ansätze der Verarbeitung – am meisten wird es deutlich im Umfeld von Herrn Behrend, der das Glück hat, auf die Tschechin Vlasta gestoßen zu sein, die Liebe mit Vergebung und Engagement auch für die Besiegten verbinden kann und in ihrem Umfeld das auslöst, wovon Washington nur träumen kann: „Sie waren Menschen … Sie blieben freundlich und liebten sich“ (S. 202)

Insgesamt ist das aber nur ein sehr kleiner Ausschnitt – der größte Teil des Romans bleibt düster und glaubt an keinen Fortschritt, keine bessere Welt, nur einen kleinen Aufschub in der Abfolge tödlicher Verhängnisse.

Was vielleicht in Koeppens Roman zu kurz kommt:

In der Literatur wird vor allem wohlwollend und zustimmend die „Unfähigkeit zu trauern“ hervorgehoben, die die Psychologen Alexander und Margarete Mitscherlich 1967 begrifflich auf den Punkt gebracht haben und die Koeppen in seinem Roman schon vorweg gestaltet hat.

Anmerkung 1: Die menschliche Normalität einer solchen Haltung

Natürlich ist es nicht schön, nicht vorbildlich und schon gar nicht heldenhaft, wie die Deutschen sich nach 1945 verhalten haben – soweit solche Kollektivbegriffe überhaupt sinnvoll sind – wir werden gleich anfangen, sie aufzulösen. Aber man muss natürlich die Lebensumstände berücksichtigen, in denen man sich befand – man denke nur an den Überlebenskampf der Deutschen im Hungerwinter 1946/1947.

Dazu kommt sicher die Schwierigkeit, von erzwungener und zum Teil auch realer Begeisterung für die die die scheinbare innere Geschlossenheit des Volkes und die problematischen außenpolitischen und kriegerischen Erfolge umzuschalten auf eine Situation, in der es um „Reeducation“ ging, Umerziehung im Sinne westlicher Werte.

Anmerkung 2: Was ist mit den Nicht- oder zumindest Weniger-Nazis?

Was Koeppens Roman völlig ausblendet, ist die Tatsache, dass mehr als die Hälfte aller Deutschen Hitler im März 1933 in schon nicht mehr freien Wahlen eben nicht (!!!) ihre Stimme gegeben haben. Zwar ließen sie sich später zum größten Teil verführen oder erlagen dem Druck – aber überzeugte Nazis sind diese Deutschen wohl nicht gewesen.

Wo sind die vielen Deutschen, die auch im KZ gesessen hatten oder sonstwie im Grenzbereich lebensgefährlicher Opposition gerade mal mit dem Leben davongekommen waren oder sich in die Wehrmacht geflüchtet hatten. Bei all den traurigen Wahrheiten, die in den letzten Jahrzehnten über Hitlers Soldaten herausgekommen sind (Wehrmachtsausstellung), es gab viele, die an der Front versuchten – freiwillig oder meist unfreiwillig – , dem Druck der Naziwelt zu entkommen

Anmerkung 3: Was ist mit den deutschen Opfern?

Es gibt leider den automatischen Verdacht, jeden Hinweis auf die deutschen Opfer im Bombenkrieg und auf der Flucht sofort als Versuch zu diskreditieren, die von Deutschland ausgegangenen Verbrechen zu relativieren. Das mag auch in vielen Fällen das vorherrschende Motiv sein. Aber das ändert doch nichts daran, dass sehr viele Deutsche, die keine Verbrechen begangen hatten, auf schreckliche Weise umkamen- Müsste ihnen nicht auch eine Stimme gegeben werden in einem Roman, der die Atempause zwischen einem Wirklichkeit gewordenen Krieg und einem möglichen nächsten Krieg beschreiben will. Wird das Bild nicht schief, wenn all das ausgeblendet wird?

Anmerkung 4: Was ist mit dem Versuch, im Osten ein anderes, besseres Deutschland aufzubauen?

Für heutige Schüler dürfte die DDR etwas sein zwischen Stasi-Diktatur und DDR-Nostalgie. Kaum jemand weiß noch, dass viele, die als Deutsche unter Hitler gelitten hatten (man denke an die Kommunisten) durchaus ehrlich versuchten, ein besseres Deutschland aufzubauen – auch wenn daraus bald unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts eine neue Diktatur wurde.

Anmerkung 5: Was ist mit den Lehren, die die politische Führung der Bundesrepublik aus NS-Zeit und Krieg zog?

Koeppen muss beim Schreiben des Romans das Grundgesetz schon gekannt haben – immer hin trat es im Mai 1949 in Kraft. Warum kein Hinweis darauf, dass schon unmittelbar nach dem Krieg unbelastete Politiker die Adenauer (der dem Nazi-Terror nur knapp entging) und Schumacher (der im KZ gelitten hatte), versuchten, ein neues politisches System aufzubauen, das aus den Erfahrungen gelernt hatte und dann zu einem erfolgreichen demokratischen Modell auf deutschem Boden wurde.

Oder was ist mit der Westorientierung des neuen Staates, also der Bereitschaft, nicht nur die Werte des Westens zu übernehmen, sondern sich auch in feste Bindungen hineinzubegeben (Montanunion als Vorstufe der heutigen Europäischen Union).

Fazit: Ein unvollständiges Bild – auch ein falsches Bild?

Halten wir fest: Koppens Roman beschreibt nur Teilaspekte der Lebenswirklichkeit in Deutschland nach dem Krieg. Kritisch gefragt werden muss, ob es Koeppen wirklich, was er in dem Vorwort zur Taschenbuchausgabe von 1956 so beschreibt: Er sieht sich als Schriftsteller, der „das Leben in [seinem] Herzen filterte, um die geheime, mit Balsam und Gift erfüllte Essenz herauszuziehen“. (zitiert nach der suhrkamp taschenbuch Ausgabe von 1980, S. 7). Es scheint doch viel Gift zu sein und wenig Balsam – und beim Gift fehlt eine genauere Analyse, woraus es sich speist und welche Alternativen es hätte geben können.

Unabhängig davon bleibt es ein grandioser Roman, der mit seinem „Tauben“-Bild sehr nachdenklich stimmt und kontroverse Diskussionen auslösen kann – weniger aber im Hinblick auf die Uneinsichtigkeit der Deutschen nach 1945 als auf grundsätzliche Fragen menschlichen Daseins und auch den besonderen Filtereinstellungen schriftstellerischen Schreibens.

Eine einfache Erklärung: Schriftsteller sind auch nur Menschen!
Es gibt eine ganz einfache Wahrheit, die aus irgendwelchen Gründen immer wieder verdrängt wird: Schriftsteller sind im besten Falle echte Künstler, die uns mit ihrem Können, ihrer Genialität zum Staunen bringen – aber sie sind Menschen und in ihrem Urteilen genauso abhängig von den persönlichen Gegebenheiten wie jeder andere auch.

Das heißt: Es lohnt sich, ihrer Wahrnehmung, ihrem Blick zu folgen – aber beides bleibt natürlich subjektiv – vielleicht sogar mehr als bei anderen Menschen, die weniger sensibel sind. Die Schärfe des Blicks – produziert noch lange nicht eine vergleichbare Schärfe, sprich: Angemessenheit des Urteils.

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