Gelenktes Schaffen als wichtige Ergänzung der Textanalyse am Beispiel der Einleitung von: Schiller, Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ (Mat5680)

Warum „gelenktes Schaffen“ beim Lesen wichtig sein kann

Wenn man versucht, ältere Texte zu verstehen – etwa aus der Zeit um 1800 herum, tauchen viele Verständnisprobleme auf.

Wir zeigen das im Folgenden am Beispiel der Einleitung zur Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“.

Neben den Problemen, die sich aus dem zeitlichen Abstand mit entsprecher Veränderung des Sprachgebrauchs ergeben, haben wir aber noch etwas viel Interessanteres festgestellt:

Gerade diese Einleitung ist ein schönes Beispiel für etwas, was wir PGS nennen (problem of general statements). Da wird etwas behauptet, ohne es genügend zu erklären. In Gedichten gibt es das besonders häufig. Aber auch in Sachtexten ist das ein Problem.

Wir haben hier mal in einem Schaubild verschiedene Problemstufen bei sprachlichen Unklarheiten und Tipps zur Klärung zusammengestellt.

Nun gehört die Einleitung zu Schillers Erzählung schon zum epischen Text, ist also Teil von Literatur. Von der Anlage her ist es aber ein eingebauter Sachtext, der etwas erklären will. Deshalb können wir ihn auch hier entsprechend vorstellen.

Wir verraten hier schon mal, wo wir eine Lösung des Problems sehen.

Es war wohl der berühmte Philosoph Sartre, der einen Satz formuliert hat, der auf deutsch so lautet:

„Lesen ist gelenktes Schaffen.“

Näheres dazu hier:
https://www.nzz.ch/spielen_mit_sartre-ld.519223
https://www.jstor.org/stable/3530080

Gemeint ist damit, dass es Texte gibt, die weitgehend eine Richtung des Verständnisses vorgeben, aber nicht so, dass man meint, sie wirklich verstanden zu haben.

Da hilft es, bei der Erklärung etwas allgemein Formuliertes mal an einem konkreten Beispiel zu erläutern.

Wichtig ist dabei nur, dass man das Ziel im Auge behält: Es geht darum, den vorhandenen Text möglichst optimal zu verstehen. Man muss sich also bei eigenen Konkretisierungen gewissermaßen mit einem Rückblick auf den Ausgangstext immer lenken lassen.

Man hat gewissermaßen eine Richtung gezeigt bekommen, in die man jetzt weiter vordringt.

Da die meisten Autoren nicht mehr sagen können, ob wir dabei auf ihrer Linie bleiben oder sie missverstehen, müssen diese konkreten Veranschaulichungen dann im Gespräch mit anderen erprobt werden. Die beste Erklärung wird sich dann hoffentlich durchsetzen.

Übrigens haben diese Konkretisierungsversuche auch den Vorteil, dass man sie anschließend für eine kritische Erörterung oder auch Bewertung des Ausgangstextes nutzen kann. Das haben wir etwa am Beispiel der berühmten „21 Punkte zu den Physikern“ von Dürrenmatt gezeigt:

https://textaussage.de/anmerkungen-zu-duerrenmatt-21-punkte-zu-den-physikern

Noch ein Nachtrag: Denotation und Konnotation

Übrigens zeigt auch die Unterscheidung zwischen Denotation und Konnotation, dass es nicht reicht, einfach ein Wort zu benutzen oder einen Satz zu formulieren.

Denotation ist der feste Bedeutungskern eines Wortes. Friede ist die Abwesenheit von Krieg, d.h. es gibt keine Kämpfe zwischen Staaten.

Konnotation ist das, was der Einzelnen aufgrund seiner Erfahrungen und Einstellungen unter Krieg versteht. Da unterscheidet jemand zum Beispiel den heißen Krieg vom kalten Krieg u.ä. Da ist es gut, wenn jemand sich klar zu seinem Verständnis äußert. Andernfalls muss man es aus dem Kontext erschließen – oder eben auf Differenzierungsnotwendigkeiten verweisen.

Abschnitt 1 von Schillers Einleitung

Der Text ist u.a. hier zu finden:
http://www.zeno.org/Literatur/M/Schiller,+Friedrich/Erz%C3%A4hlungen/Der+Verbrecher+aus+verlorener+Ehre

Wir präsentieren hier den Originaltext links und die Anmerkungen rechts zunächst als Schaubild zum leichteren Vergleich.

Darunter dann die normale Schreibfassung

Originaltext:

  1. In der ganzen Geschichte des Menschen ist kein Kapitel unterrichtender für Herz und Geist als die Annalen seiner Verirrungen.
  2. Bei jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung.
  3. Wenn sich das geheime Spiel der Begehrungskraft bei dem matteren Licht gewöhnlicher Affekte versteckt, so wird es im Zustand gewaltsamer Leidenschaft desto hervorspringender, kolossalischer, lauter;
  4. der feinere Menschenforscher, welcher weiß,
    1. wie viel man auf die Mechanik der gewöhnlichen Willensfreiheit eigentlich rechnen darf
    2. und wie weit es erlaubt ist, analogisch zu schließen,
  5. wird manche Erfahrung aus diesem Gebiete in seine Seelenlehre herübertragen und für das sittliche Leben verarbeiten.

Kommentar:

  • Die Geschichte beginnt mit einer Vorrede, in der der Erzähler zunächst auf einen Vorteil verweist, der mit einem Verbrechen verbunden ist.
  • Dieser Vorteil liegt für ihn darin, dass seiner Meinung nach
    • bei einem Verbrechen eine besonders große Kraft sichtbar wird.
    • Die ist dann leichter zu erkennen, zu beschreiben und zu verstehen als bei den Vorgängen, bei denen kleinere Kräfte wirken.
  • Beispiel für „gelenktes Schaffen“ beim Lesen ->
    • besseres Verständnis
    • und Prüfung
      Zum Verständnis kann es hier hilfreich sein, wenn man sich selbst einfach schon mal probeweise einen Fall ausdenkt, den man dann mit dem vom Erzähler geschilderten vergleichen kann.
  • Verweis auf ein ausgedachtes Erfahrungsbeispiel
    • Zum Beispiel gibt es Formen der Eifersucht, die sich in kleinen Sticheleien zeigen und über die man dann erst mal hinwegsieht, sie einfach hinnimmt.
    • Wenn die Eifersucht aber soweit geht, dass man dem anderen regelrecht schadet, ihn vielleicht sogar vernichten will, dann ist man im Bereich des Verbrechens.
  • Verweis auf ein literarisches Beispiel, das man zufällig kennt:
    • Ein berühmtes Beispiel, das Schüler selbst in seinem Drama „Die Räuber“ präsentiert, sind die Verbrechen,
      • die Franz, der jüngere Sohn eines Grafen,
      • an seinem älteren Bruder Karl begeht,
      • was am Ende auf eine allgemeine Katastrophe hinausläuft.

Wir setzen das noch fort

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