Hedwig Dransfeld, „Freiheit“ – ein Gedicht, das mit früheren Epochen spielt (Mat5238)

Worum es hier geht:

Hedwig Dransfeld hat ja mit ihrem Gedicht „Mittagszauber“ ein ziemliches Feuerwerk entfacht. Jedenfalls scheint das Thema in vielen Deutschstunden zu sein.

Ein Grund mehr, sich auch mal mit einem anderen Gedicht zu beschäftigen, bei dem auch die Natur eine große Rolle spielt, aber auch neue Aspekte ins Spiel kommen.

Schauen wir uns das Gedicht mal genauer an.

Zu finden ist es z.B. hier:
https://gedichte.xbib.de/Dransfeld_gedicht_021.+Freiheit.htm

Anmerkungen zu Strophe zum Titel

Freiheit

  • Der Titel ist sehr allgemein gehalten, präsentiert aber ein Wort, das für die meisten Menschen mit positiven Erwartungen verbunden ist.
  • Allerdings weiß man nicht, in welche Richtung der Begriff präzisiert wird.

Anmerkungen zu Strophe 1

  1. Wie durch die Wipfel der Herbstwind pfeift!
  2. Wie die Kronen wirbeln und schwanken!
  3. Brausende Lüfte! – Und unten schleift
  4. Müde mein Fuß durch Gräser und Ranken.
  5. Sturm, du mein junges, todwildes Roß,
  6. Könnt’ ich mit dir den Welt-Ritt wagen!
  7. Heb mich empor aus dem schleichenden Tross
  8. Einmal sollst du mich tragen.
  • Die erste Strophe geht von dem Phänomen des Herbstwindes oder sogar eines Herbststurms aus.
  • Das lyrische Ich sieht sich selbst eher als müde, getragen von diesem Element der Natur, will aber den „Welt-Ritt wagen“.
  • Am Ende wird deutlich, dass das lyrische Ich sich als etwas Besonderes sieht, das aus dem ansonsten „schleichenden Tross“ der anderen herausgetragen werden will.
  • Dese erste Strophe könnte auch durchaus aus der Epoche des Sturm und Drang stammen.
  • Vom Ansatz her ähnlich ist es auch dem Gedicht
    „Am Turme“ von Annette von Droste Hülshoff.
    : https://www.schnell-durchblicken2.de/droste-am-turme
  • In dem Gedicht wird noch stärker die Sehnsucht der Frau deutlich, auch das erleben zu dürfen, was kulturell nur oder vorwiegend den Männern vorbehalten ist.

Exkurs: Zum Versmaß der ersten Strophe

Wir haben uns mal die Mühe gemacht, alle betonten Silben in Großbuchstaben zu präsentieren und darunter mit einem „ß“ hervorzuheben, während das x jeweils für eine unbetonte Silbe steht.

WIE durch die WIPfel der HERBSTwind PFEIFT!
ßxxßxxßxß

WIE die KROnen WIRbeln und SCHWANken!
ßxßxßxxßx

BRAUsende LÜFte! – Und UNten SCHLEIFT
ßxxßxxßxß

MÜDe mein FUSS durch GRÄser und RANken.
ßxxßxßxxßx

STURM, du mein JUNges, TODwildes ROSS,
ßxxßxßxxß

KÖNNT’ ich mit Dir den WELT-Ritt WAgen!
ßxxßxßxßx

HEB mich emPOR aus dem SCHLEIchenden TROSS
ßxxßxxßxxß [Hier mal ein dreihebiger Daktylus]

EINmal Sollst du mich TRAgen.
ßxßxxßx

Man sieht, dass der Rhythmus sehr unregelmäßig ist, was sicher der Stimmung des lyrischen Ichs entspricht.

Wie wenig diese Versmaß-Untersuchungen bei einem Gedicht dieser Art von Bedeutung sind, zeigt der folgende Kurzvortrag – mit einem kleinen Lesefehler, der aber am Rhythmus nichts ändert 😉

Anmerkungen zu Strophe 2

 

  1. Ach so enge, so enge mein Haus
  2. Und der Jahre wiegender Reigen!
  3. Breite die nächtlichen Schwingen aus,
  4. Einmal will ich zur Sonne steigen.
  5. Tief in den grauenden Weltraum hinein! –
  6. Lass die Erde in Nacht versinken…
  7. Einmal will ich dich himmelrein,
  8. Atem der Wolken, trinken.
  • In dieser Strophe beschreibt das lyrische Ich die Enge seiner aktuellen Existenz.
  • Außerdem wird noch einmal deutlich, welches Ausmaß an Sehnsucht in dem lyrischen Ich vorhanden ist. Es nimmt keine Rücksicht auf die realen Gegebenheiten.
  • Das kann man durchaus auch der Romantik zu ordnen.
  • Insgesamt wird deutlicht, dass dies ein Gedicht ist, das sehr schön deutlich macht, dass Dichter und Dichterin späterer Zeiten durchaus im Stil und in der Haltung früherer Epochen schreiben können. Das muss dann keine Nachahmung sein und ist es ja auch nicht, sondern es ist ein menschliches Gefühl, das es in der Form zu verschiedenen Zeiten, wenn ich sogar zu allen Zeiten geben kann.

Anmerkungen zu Strophe 3

  1. Hülle mich ein, du geheiligter Hauch!
  2. Und mein irdisches Hassen und lieben
  3. Lass zerflattern wie Nebelrauch,
  4. Lass wie Winterflocken zerstieben.
  5. Sieh, wie die Sehnsucht mein Mark verzehrt
  6. Nach den Festen, den ewigen, grauen…
  7. Keiner, den irdisches Hoffen beschwert,
  8. Darf in den Himmel schauen.
  • Hier findet sich das einer erneute Wendung an die Natur und besonders den Herbststurm.
  • Es möchte offensichtlich in die Natur aufgenommen werden und dabei auch extreme eigene Gefühle wie hassen und lieben vergessen.
  • Man fragt sich hier, ob das nicht eine Haltung ist, die zum Buddhismus und seiner Vorstellung vom Nirvana, der Auflösung der eigenen Individualität, passt.
  • Am Ende wird noch einmal die Sehnsucht betont, die das lyrische ich bewegt.
  • Nicht ganz klar ist, was mit den grauen Festen gemeint ist.
  • Etwas nihilistisch wirkt die letzte Doppelzeile, in der allem irdischen Hoffen abgeschworen wird. Vielleicht ist es aber auch nur eine Variante des Aufgehens in der Natur. Das wäre dann gewissermaßen die Hoffnung auf das Ende der Sehnsucht.

Anmerkungen zu Strophe 4

  1. Höher und höher! – – Und ist mir ein Grab
  2. Dann auch bereitet auf ragenden Klippen, –
  3. Frei noch im Sterben stürz’ ich herab,
  4. Küsse die Erde mit blutigen Lippen.
  5. Dreimal gesegnet, sinkender Tag!
  6. Nein, deine Sonne hat nicht gelogen…
  7. Ob ich auch lange am Boden lag,
  8. Einmal bin ich geflogen.
  • Die letzte Strophe betont noch einmal das Bedürfnis nach Aufstieg, reduziert das dann aber auf eine Selbstmord-Fantasie, die aber nicht der Verzweiflung entspringt, sondern eben einem romantischen, mutigen Sprung ins Nichts der eigenen Existenz, die Auflösung in der großen Natur, hier bezeichnenderweise im Bild des Meeres präsentiert.
  • Am Ende wird das noch weiter reduziert, nämlich nur auf die aktuelle Fantasie, eine Vorstellung von einem Flug, auch wenn er nur in Gedanken erfolgt ist.
  • Offensichtlich genügt das dem lyrischen ich an dieser Stelle.

Zusammenfassung: Aussage (Intentionalität)

  • Insgesamt ein Gedicht, das eine unbändige Sehnsucht zeigt
    • nach dem Ungeheueren,
    • die menschliche Individualität Übersteigenden
    • und anscheinend auch Auslöschenden.
  • Es geht um eine Art Aufgehen in etwas Größerem..
  • Interessant ist dabei, dass das Gedicht selbst dieses Aufgehen in etwas Größerem in seiner inhaltlichen Gestaltung präsentiert.
    • Denn aus dem großen Wunsch zur Sonne und ins Weltall zu fliegen,
    • wird am Ende eine Art lustvoller Sprung in das Meer.

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