Hugo von Hoffmannsthal, „Siehst du die Stadt“ – kein Expressionismus im Expressionismus? (Mat7014)

Worum es hier geht:

Das Gedicht „Siehst du die Stadt?“ von Hugo von Hofmannsthal gehört nur insofern zum Thema „Expressionismus“, als es einen Gegenpol markiert.

Wir zeigen hier, was das Besondere und eben ganz andere an diesem Gedicht ist.

Hugo von Hofmannsthal

Siehst du die Stadt?

01        Siehst du die Stadt, wie sie da drüben ruht,
02        Sich flüsternd schmieget in das Kleid der Nacht?
03        Es gießt der Mond der Silberseide Flut
04        Auf sie herab in zauberischer Pracht.

05        So geisterhaft, verlöschend leisen Klang:
06        Sie weint im Traum, sie atmet tief und schwer,
07        Sie lispelt, rätselvoll, verlockend bang…
08        Der laue Nachtwind weht ihr Atmen her,

09        Die dunkle Stadt, sie schläft im Herzen mein
10        Mit Glanz und Glut, mit qualvoll bunter Pracht:
11        Doch schmeichelnd schwebt um dich ihr Widerschein,
12        Gedämpft zum Flüstern, gleitend durch die Nacht.

 

(1890)

 

Beginnen wir mit einer ersten grafischen Bearbeitung:

Die grüne Farbe steht dabei für harmonisch wirkende Elemente,
die rote für problematische, vielleicht sogar gefährliche.

Die gelbe Farbe steht für Elemente, die sowohl positiv als auch negativ oder problematisch sein können.

Erste Beobachtungen und Anmerkungen:

  1. Es geht um eine Stadt, die von ferne gesehen wird und bei vor allem die Ruhe und die harmonische Einbettung in das nächtliche Umfeld beeindrucken.
  2. In den Zeilen 3 und 4 geht es dann vor allem um die positive Rolle, die der Mond dabei spielt.
  3. Wer ein bisschen Ahnung von romantischen Gedichten hat, entdeckt hier sicher Ähnlichkeiten.
  4. Die Zeilen 5-8 gehen dann genauer auf die Wirkung ein, die all das auf die Menschen hat.
  5. Dabei entsteht eine gewisse Ambivalenz (eine Haltung, die sowohl positiv als auch negativ sein kann): Auf der einen Seite bleibt das Leise und kommt das Verlockende hinzu.
  6. Das ist aber „geisterhaft“ und „rätselvoll“, auch ist der Atem „schwer“. All das zeigt, dass es hier nicht mehr nur schön ist, sondern auch ein Problem, eine Herausforderung und damit eine Last damit verbunden ist.
  7. Die letzte Strophe macht dann die enge Verbindung deutlich zwischen dem Sprecher und der Stadt.
  8. Auch ist von „Pracht“ die Rede, aber eben auch von „qualvoll“, was die früheren Eindrücke verstärkt.
  9. Am Ende bleibt ein „schmeichelnd“, was hier wohl eher positiv gemeint ist, aber nicht so sein muss.
  10. Schließlich fallen einem auch Beispiele aus der Literatur ein, wo rätselhafte Verlockung kein gutes Ende nimmt – übrigens auch ein wichtiges Motiv der Romantik.
  11. Vorläufiges Fazit: Ein Gedicht, das noch viele Anklänge an die Romantik hat, aber schon Rätseln und vor allem von Qual spricht – für die Romantik eher untypisch und damit eine Art Vorgriff auf den Expressionismus.
  12. Dessen Dichter stellen die Negativseiten der modernen Stadt (vor allem der Großstadt viel stärker heraus). Sie wird damit zu einer Art Schlüsselobjekt der Epoche, an dem sich die Geister scheiden.

Hinweis für den Unterricht:

Man kann dieses Gedicht gut vergleichen mit „Die Stadt“ von Lichtenberg. Dann hat man einmal eine „alte“, noch fast romantische Sicht, zum anderen eine moderne, die schon Züge des Expressionismus zeigt.

Alfred Lichtenstein

Die Stadt

01; Ein weißer Vogel ist der große Himmel.
02: Hart unter ihn geduckt stiert eine Stadt.
03: Die Häuser sind halbtote alte Leute.

04: Griesgrämig glotzt ein dünner Droschkenschimmel.
05: Und Winde, magre Hunde, rennen matt.
06: An scharfen Ecken quietschen ihre Häute.

07: In einer Straße stöhnt ein Irrer: Du, ach, du –
08: Wenn ich dich endlich, o Geliebte, fände…
09: Ein Haufen um ihn staunt und grinst voll Spott.

10: Drei kleine Menschen spielen Blindekuh –
11: Auf alles legt die grauen Puderhände
12: Der Nachmittag, ein sanft verweinter Gott.

 

Behandelt haben wir das Gedicht hier:
https://textaussage.de/alfred-lichtenstein-die-stadt