Kafka, „Der Aufbruch“ – einen schwierigen Text durch Zerlegen, Abstrahieren und Bündeln verstehen (Mat5871)

Worum es hier geht:

  • Wir zeigen am Beispiel der kurzen Erzählung „Der Aufbruch“ von Franz Kafka, wie man einen Text durch
    • Zerlegen und
    • Bündeln
  • sicher verstehen kann.
  • Damit hat man auch die Basis für eine Interpretation.

Frank Kafka

Der Aufbruch

  • Es geht um einen „Aufbruch“, also den zielgerichteten Beginn einer Reise o.ä.
  1. Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht.
    • Inhalt:
      • Situation Aufbruch
      • Unverständnis des Dieners
    • Auswertung: Seltsame Reaktion des Dieners
      Wichtig ist es, nicht einfach wiederzugeben, was da schon steht. Sondern zu überlegen, was bedeutet das im Zusammenhang.
    • Allgemeines Signal: Hier gibt es vielleicht ungewöhnliche Dinge.
  2. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es.
    • Inhalt: Was da steht.
    • Auswertung im Zusammenhang:
      Ich-Erzähler macht den Job selbst
      Hier merkt man schon, dass das Verhältnis von Diener und Herr interessant iste.
    • Signal: ungewöhnliche Reaktion, denn kein normaler Herr lässt sich das so einfach gefallen
      verstärkt diesen Signalbereich
  3. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeutete. Er wusste nichts und hatte nichts gehört.
    • Neuer Inhalt: Trompete
    • Erneuter Versuch in Richtung Diener – diesmal eine Frage
    • Erneute seltsame Reaktion des Dieners
      Auch hier sollte man Überlegungen anstellen.

      • entweder stimmt was nicht mit dem Erzähler
      • oder mit dem Diener
    • Leserlenkung – vorläufige Hypothese:
      Das ist erst mal wahrscheinlicher.
  4. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: „Wohin reitet der Herr?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich, „nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.“ „Du kennst also dein Ziel“, fragte er. „Ja“, antwortete ich, „ich sagte es doch: ‚Weg-von-hier‘ – das ist mein Ziel.“
    • Auswertung mit Vergleich zum früheren Verhalten -> Diener ändert sich
    • Jetzt stellt er eine Frage
    • Nächste Änderung betrifft den Herrn
      Er kann oder will die Frage nach dem Ziel nicht beantworten, will nur weg
      (sehr ungewöhnliches Signal – normalerweise hat man ein Ziel.)
    • Dann die Information:
      „Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen“
      Auf den ersten Blick absurde These
    • Lässt sich auflösen, wenn man das Wegwollen als Ziel ansieht.
    • Diese Hypothese bestätigt der folgende Dialog mit dem Diener.
  5. „Du hast keinen Eßvorrat mit“, sagte er. „Ich brauche keinen“, sagte ich, „die Reise ist so lang, daß ich verhungern muß, wenn ich auf dem Weg nichts bekomme. Kein Eßvorrat kann mich retten.
    • Diener sorgt sich – das setzt sein Engagement (vorher Frage) fort.
    • Absurdität pur:
      Der Ich-Erzähler als Herr behauptet: Je länger die Reise, desto weniger nehme ich mit.
    • Dann der klare Hinweis:
      Essvorräte könnten ihn nicht retten.
      Auswertung:
      Totale Umkehrung der Normalität. Normalerweise versorgt man sich für eine Reise.
  6. Es ist ja zum Glück eine wahrhaft ungeheure Reise.“
    • Das mit dem Glück kann man verstehen, er wollte ja vor allem weg – und solange er unterwegs ist, entfernt er sich immer weiter.
    • Frage der Ironie
      • Ironie erkennt man an daran, dass das Gesagte nicht übereinstimmt mit der Realität.
      • Der Leser erkennt das
      • Dass es auch der Erzähler erkennt, dafür gibt es keinen Beleg.
      • Also ist das nicht ironisch – der Erzähler meint das so, auch wenn es den Leser verwundert.
    • Fazit:
      • Der Erzähler hält eine Reise als Glück, die unendlich lang ist, bei der er aber nicht glaubt, dass ein Essvorrat ihn vor dem Verhungern bewahren würde.
      • Er geht also davon aus, dass er unterwegs etwas bekommen muss, was erbraucht.
    • Lösungshypothese:
      Rückgriff auf die These, Kafkas Parabeln zeigten die Situation allemein des Menschen in der Welt.

      • Aussagen der Geschichte: Die Geschichte zeigt
        • Einen Menschen, der auf eine lange Reise gehen will
        • Für die er keinen Essvorrat mitnimmt,
        • Weil er unterwegs was zu essen bekomme muss.
      • Diese Geschichte macht deutlich, dass der Mensch, wenn er aufbricht, auf eine Reise geht, für die er nicht vorsorgen kann.
      • Er muss hoffen, dass er das unterwegs bekommt, was er zum Weiterleben braucht. Das können keine Nahrungsmittel sein, sondern zum Beispiel Weisheit, Sinnangebote u.ä.
      • Man kann sich das so vorstellen, dass ein Mensch mehr braucht als Lebensmittel (das ist die paradoxe Bildseite der Parabel)
      • Sinnvoll wird sie, wenn man die Sachseite hinzudenkt:
        Der Mensch braucht für seine Lebensreise immer wieder geistig-seelische Nahrung, die ihn motivieren, weiterzuleben.
      • Man könnte auch sagen: Der Mensch hofft, dass er durch Aufbruch und Unterwegssein die notwendigen Impulse zum Weiterleben bekommt.

Fazit:

  1. Man muss bei der Analyse schwieriger Texte kleinschrittig, akribisch vorgehen
    deshalb am besten einen Text zerlegen und Absatz für Absatz durchprüfen.
  2. So kommt man zu möglichst sicheren Erkenntnissen und Ergebnissen.
    Man nennt das „induktives Vorgehen“ – von den Einzelheiten zu größeren Ideen hochschließen
    Wichtig ist dabei:

    1. nicht nur den Inhalt wiedergeben, sondern ihn auch bewerten. Fällt etwas auf wie das ungewöhnliche Verhalten von Diener und Herr.
      Dabei „abstrahiert“ man, bleibt nicht beim Einzelfall, sondern fragt sich: Was geschieht da eigentlich vor dem Hintergrund der allgemeinen Lebenserfahrung.
      Dabei kann man durchaus Vermutungen äußern, die so lange gültig sind, wie es keine besseren gibt.
    2. Lassen sich diese Signale zu Aussagen bündeln
      1. Der Diener verhält sich erst unverständig,
      2. interessiert sich dann aber für das Verhalten des Herrn
      3. Dieser macht deutlich, dass er nur weg will
      4. dass ihm das als „Ziel“ reicht – also immer unterwegs zu sein
      5. dass er glaubt, unterwegs das zu bekommen, was er zum Weiterreisen braucht (vielleicht neue Zwischenziele)
    3. Was den „Sinn“ des Textes angeht, kann man auch hier auf Hypothesen zurückgreifen, wenn sich aus dem Text selbst keine bessere Erklärung anbietet.
      Hier ist es der Rückgriff auf eine allgemeine Erklärung der kurzen Erzählungen Kafkas als „Parabeln“, also Geschichten, die eigentlich ein ausgedachtes Bildbeispiel sind, das auf eine zentrale Aussage hinausläuft, das man dann auf die Sachseite: Mensch in der Welt übertragen kann.
  3. Auf keinen Fall darf man schnell abspringen in irgendeine Idee. Also nicht rumspekulieren.
  4. Sonst droht in der Regel der Sprung in den Abgrund.
  5. Vor dem bewahrt man sich durch genaues Hinschauen, Auswerten und Vergleichen mit anderen Textsignalen.

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