Klausur zum Thema Mehrsprachigkeit – Schroeder-Wiese-Bracker-Text

Ansätze einer Musterinterpretation eines Sachtextes mit Anmerkungsbedarf

Das Folgende bezieht sich auf einen Text, der im Internet unter dieser Adresse verfügbar ist:
https://mediendienst-integration.de/de/artikel/keine-angst-vor-mehrsprachigkeit.html
abgerufen: 10.04.2019 22:13

Vorbemerkung:

Die Besonderheit dieses Textes besteht darin, dass viele Aussagen unklar bzw. problematisch sind, so dass kritische Detailanmerkungen zum Teil schon bei den einzelnen Passagen erfolgen.

Wenn ein argumentierender Text weniger Notwendigkeiten zur direkten Kommentierung enthält, kann man die entsprechenden Passagen dieser Musterlösung einfach weglassen und sich auf die Erläuterung des Gangs der Gedanken beschränken.

Die zusammenfassende kritische Untersuchung der Leserlenkung erfolgt dann wie gefordert in der 2. Aufgabe.

 

[Aufgabenbezogene Einleitung]

  1. Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine Stellungnahme von drei Wissenschaftlern der Universität Potsdam zu einem zwischenzeitlich diskutierten Leitantrag der CSU, der am 8.12.2014 im Internet veröffentlicht wurde.
  2. In diesem Leitantrag ging es darum, dass Menschen, die dauerhaft in Deutschland leben wollen, „im öffentlichen Raum“, aber auch „in der Familie“ Deutsch sprechen.
  3. Thema des Textes ist zum einen die Frage, wie am besten Deutsch gelernt werden kann, in viel größerem Maße allerdings geht es um die Bedeutung und die Vorteile von Mehrsprachigkeit.

 

  1. [8-14: Doppelthese vom Normalfall der Mehrsprachigkeit und ihrem Wert in modernen Gesellschaften]
    1. Der Text beginnt im ersten Abschnitt (8-14) mit der These, weltweit wachse “die Hälfte der Menschen mit zwei oder mehr Sprachen auf” (8), ohne dass dies näher ausgeführt wird. Im zweiten Satz wird dann von den Autoren selbst die Bedeutung dieser These benannt, nämlich die Erklärung der Mehrsprachigkeit zum “Normalfall” (9).
    2. Der zweite Gedanke geht dann über zur Europäischen Union, die zur Sicherung dieses Ziels “die Förderung von Mehrsprachigkeit” anstrebt. Das wird anschließend konkretisiert in Richtung Dreisprachigkeit – einschließlich der Muttersprache.
    3. Den Schluss des ersten Abschnitts bildet die Behauptung, Mehrsprachigkeit sei “eine wertvolle Ressource”. Das wird dann ohne weitere Erläuterung verbunden mit dem Aspekt von Vielfalt, die für die Verfasser im Bereich der Sprachen “zu den Stärken moderner Gesellschaften” (13/14) gehört.
  2. [15-22: Die Lage der Mehrsprachigkeit in Deutschland]
  3. Im zweiten Abschnitt (15-22) geht es um die Lage der Mehrsprachigkeit in Deutschland.
  4. Wohl nicht ganz im Sinne der EU, die vor allem an eine Sprache als “Ressource” (wohl primär in wirtschaftlicher Hinsicht) denkt, wird Deutschland wegen seiner Minderheitensprachen als “mehrsprachiges Land” (15) bezeichnet Die aufgeführten Beispiele (16/17)  sind wohl eher kulturell als wirtschaftlich von Bedeutung.
  5. Die anschließende Erwähnung der “Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen” und der damit verbundenen besonderen Schutzrechte dürfte die Wirtschaft eher belasten als fördern. Darauf wird im Rahmen der Aufgabe 2 noch genauer eingegangen.
  6. Nur scheinbar überzeugend wird anschließend der Wunsch der CSU aufgeführt, die deutsche Sprache im Ausland zu schützen. Denn das liegt auf einer ganz anderen Ebene als jede beliebige Migrantensprache in gleicher Weise zu fördern wie die genannten, seit altersher in Deutschland vorhandenen Minderheitensprachen.
  7. [23-29: “Gute Gründe” für die Förderung der Mehrsprachigkeit]
  8. Im dritten Abschnitt (23-29) geht es um Argumente zugunsten der Förderung der Mehrsprachigkeit. Zu den genannten drei “Vorteilen” (25) gehören das Phänomen “größerer geistiger Flexibilität” (24), das bessere “Verständnis beim Erwerb weiterer Sprachen” (24/25) und dass “Mehrsprachige im Alter länger geistig fit” (25) blieben.
  9. Der erste Punkt wird nicht näher erläutert, der zweite ist selbsterklärend, auch dem dritten wird man nicht widersprechen, auch wenn man das sich ebenfalls näher ausgeführt wünscht.
  10. Dann wird die Ungenauigkeit noch größer, denn ganz überraschend heißt es, “sprachliche Vielfalt” erweitere “das kompetente gesellschaftliche Handeln” (26). Mit der anschließenden Begründung (26/27) kann man nicht viel anfangen. Offensichtlich wollen die Verfasser nur irgendwie eine Überleitung schaffen zu einer seltsamen Dreiheit von “Dialekte, Stile und Jugendsprachen”. Hier werden sehr unterschiedliche sprachliche Phänomene in einen Topf geworfen – die “Stile” haben dabei kaum etwas mit Mehrsprachigkeit zu tun.
  11. Ebenso wenig ausgeführt wird die nächste Aneinanderreihung sehr unterschiedlicher Begriffe: “Funktion”, “Berechtigung” und “folgen bestimmten Regeln.” Auf jeden Fall hat das alles nichts zu tun mit dem Ansatz des ersten Absatzes: Die EU möchte sicher echte Dreisprachigkeit und keine Sprecher, die deutsch, bairisch und sächsisch können und sonst nichts.
  12. Ähnlich wie in Zeile 20-22 wird dann ein überaus verständliches Ziel der bayerischen Partei CSU als Beleg dafür genommen, dass sie alles fördern will, was die Autoren dieses Textes für sprachliche Vielfalt halten.
  13. [30-36: Das Problem des Spracherwerbs und des Sprachzwangs]
  14. Im letzten Abschnitt (30-36) geht es um die Frage, wie Deutschkenntnisse erworben werden und wie man sich zum “Zwang zur Einsprachigkeit” positionieren sollte.
  15. Zunächst einmal wird zwischen allgemeinen Deutschkenntnissen und der formellen Schriftsprache unterschieden, als wäre letztere nicht die oberste sprachliche Gemeinsamkeit der Sprachgemeinschaft. Wenn nicht an vielen Stellen im “täglichen Miteinander” auch die “Schriftsprache” verwendet wird, werden die paar Deutschstunden in der Schule kaum reichen. Wie Schriftsprache an Kinder im Kindergarten herangetragen wird (im Unterschied zu dem anderen “täglichen Miteinander” bleibt ein Geheimnis der Autoren.
  16. Stattdessen stellen sie einfach mal die Forderung nach einer “sinnvolle[n] Förderung aller Kinder” auf, “unabhängig davon, aus welchen sozialen Schichten sie kommen und welche Sprachen sie sprechen”.
  17. Wie das in einem Schulsystem funktionieren soll, das bisher nur wenige Schüler mit geringen oder fehlenden Deutschkenntnissen integrieren musste, und sich plötzlich einer wachsenden Zahl von Schülern mit diesen Voraussetzungen ausgesetzt sieht, da machen sich die Verfasser keine Gedanken. Ihnen reicht die wenig hilfreiche Erkenntnis: “In diesem Bereich ist noch viel zu tun” (33/34).
  18. Stattdessen wird jeder “Zwang zur Einsprachigkeit” abgelehnt, als könnte man Deutsch lernen, ohne sich maximal – und ggf. auch mit dem “Zwang” zum Beispiel von Klassenarbeiten – darauf zu konzentrieren.
  19. [Zusammenfassung der Kernaussagen bzw. der Position der Autoren]
    1. Die erste Kernaussage ist, dass Mehrsprachigkeit ein Normalfall ist mit vielen Vorteilen und dementsprechend gefördert werden sollte.
    2. Als zweite Kernaussage kann man den Schutz von Minderheitensprachen betrachten.
    3. Die dritte Kernaussage betrifft den Ort, an dem die deutsche Sprache gelernt werden soll bzw. kann. Hier wird unterschieden zwischen dem mündlichen Bereich, der überall eine Rolle spielen soll, und dem Bereich des Schriftdeutsch, der dem Kindergarten und der Schule vorbehalten ist.
  20. [Überleitung zur 2. Aufgabe]
  21. An verschiedenen Stellen ist schon auf Mängel der Argumentation des Textes im Bereich von Klarheit und Sachlichkeit hingewiesen worden – das war leider bei diesem Text anders gar nicht möglich.
  22. Im Folgenden soll nun genauer und systematisierend auf die “Mittel” eingegangen werden, deren sich die Verfasser bedienen.
  23. Jetzt sei schon die Ergebnishypothese vorweggenommen, dass es sich eher um den Vorgang des “Überredens” als den des “Überzeugens” handelt.
  24. [Kritische Überprüfung der Leserlenkung im Text]

Vorbemerkung: Hier ist relativ viel aufgeführt worden, was in einer normalen Schülerklausur nicht geleistet werden muss. Es geht eher darum, den Blick zu erweitern auf das, was alles möglich wäre.

  1. Was vor allem auffällt, ist die Präsentation einfacher Behauptungen (7/8, 15, 25/26; 27/28), die man sich gerne belegt bzw. genauer begründet wünschte.
  2. Vorgaben werden zum Teil unreflektiert übernommen : So ist die Forderung der EU nach Dreisprachigkeit ihrer Bürger möglicherweise realitätsfern und stimmt vor allem mit der aktuellen Wirklichkeit nicht überein. Man muss nur daran denken, wieviele Menschen in der Innenstadt spontan in der Lage sind, einem Engländer oder Franzosen oder einem Spanier bei Fragen weiterzuhelfen.
  3. Was vor allem stört, ist ein nur undifferenziertes Gleichsetzen von kulturell vorhandenen nd damit schützenswerten Minderheitensprache und Sprachen, die in parallelgesellschaftlichen Strukturen die Integration eher behindern (16 gegenüber dem Anlass der Stellungnahme = CSU-Forderung, dass auch zu Hause deutsch gesprochen werden soll
  4. Ärgerlich ist auch die undifferenzierte Gleichsetzung von Dialekten, Stilen und Jugendsprachen (hier wäre ein Verweis auf Wieses Dialekttheorie im Hinblick auf Kiez-Deutsch möglich, dem heftig widersprochen wurde).
  5. Differenziert wird auch nicht zwischen im Rahmen der Globalisierung nötigen Fremdsprachen und zum Teil abgelegenen Herkunftssprachen.
  6. Ärgerlich auch die völlige Ausklammerung aller praktischen (organisatorischen, auch finanziellen) Probleme bei einem Übermaß an Mehrsprachigkeit – vor allem im Bereich von Randsprachen.
  7. Überhaupt fällt auf, dass die Verfasser meist von allgemeiner Mehrsprachigkeit sprechen, es ihnen in Wirklichkeit aber um den Schutz von Migranten vor allzu großen Zumutungen beim Lernen der deutschen Sprache geht. Wie Deutsch gelernt werden soll, wenn es überhaupt keinen „Zwang“ dazu gibt, wird nichtd geklärt. Vor allem wird nicht auf das Phänomen eingegangen, dass es jetzt schon in Berlin Schulen geben soll, deren Klassen zum Teil nur noch ganz wenige deutsche Muttersprachler als Schüler haben.
  8. Insgesamt hat man den Eindruck, dass der Text eher politische Ziele zu Lasten bewährter Bildungsziele verfolgt, statt sich ernsthaft und ausgewogen um einen Ausgleich zwischen den Interessen des Aufnahmelandes und der Zuwanderer zu bemühen.
  1. [Erörterung von Problemen beim individuellen und institutionellen Mehrsprachigkeitserwerb vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen]
    Hier kann es natürlich nur individuelle Lösungen geben, dabei könnten aber die folgenden Aspekte berücksichtigt werden (hier nur Stichwörter, in der Klausur unbedingt ausformulieren!)

    1. Zeitfenster (bis etwa 6 Jahre) für das Erreichen von Muttersprachlichkeit auch im Bereich der deutschen Sprache, Schule zu spät
    2. Überforderung der Lehrer in Grundschulen -> z.T. „falsches“ Englisch
    3. Probleme der Abstimmung mit den Elternsprachen und zwischen ihnen
    4. Gefahr der Vernachlässigung der deutschen Sprache zugunsten von Mehrsprachigkeit
    5. Falsches Signal bei Migrantensprachen, wenn kein oder wenig Druck ausgeübt werden; der kommt dann später durch die Realität (etwa Bewerbungen)
    6. Überlagerung von Verständnisproblemen in vielen Fächern, wenn dort mehrsprachig unterrichte wird (Geschichte, Religion, Philosophie eher als in den Naturwissenschaften
    7. Kostenprobleme im Bereich der Ausbildung: Normale Lehrer werden auch noch zu Sprachlehrern
    8. zugleich Problem der Qualität der Sprachkompetenz
    9. Institutionelle Mehrsprachigkeit bei Elternabenden oder am Elternsprechtag, wenn man Dolmetscher braucht
  2. [Abschließendes und begründetes Urteil]
    Auch das ist nur ein Beispiel – hier sind natürlich viele Alternativen möglich. Deshalb wieder nur Stichwörter, die in der Klausur ausformuliert werden müssten!)

    1. Mehrsprachigkeit ist sicher wünschenswert,
    2. Wenn man sich auf geeignete Sprachen einigen kann und
    3. man die Beteiligten
    4. und auch die Fächer nicht überfordert.
    5. Eine gemeinsame Standardsprache ist unbedingt nötig – und hier geht es auch nicht ohne sachgerechten Druck (Zwang der Realität)
    6. Insgesamt: Nicht von oben vorgeben, sondern mit der Praxis zusammen entwickeln.

Weiterführende Hinweise