Koeppen, „Tauben im Gras“: Aufbau einer erzählten Welt (Episode 1-11) (Mat105)

Worum es hier geht: Wir wollen zeigen, wie in einem Roman die erzähle Welt aufgebaut ist – und zwar am Beispiel von Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ (Episode 1-11)

Das Wesen der Epik und besonders des Romans ist, dass ein mehr oder weniger sichtbarer Erzähler vor den Augen des Lesers eine ganz eigene Welt aufbaut. Sie besteht aus ganz unterschiedlichen Bausteinen, sendet aber zunehmend Signale aus, die im Leser einen besonderen Eindruck erzeugen.

Wir zeigen das im Folgenden einfach mal am Beispiel des Romans „Tauben im Gras“, der im Jahr 2014 in NRW zu den Abiturlektüren gehört und von daher besonders interessant ist.

Dazu zunächst einmal ein Schaubild, das die ersten 11 Episoden des Romans präsentiert.

Wir sind nicht ganz fertig geworden – aber das lässt sich jetzt sicher leicht fortsetzen.

In 11 Episoden bekommt der Leser einen ersten Eindruck von einer Nachkriegswelt, die auf dem Weg in einen neuen Krieg ist.

Der Aufbau der erzählten Welt in Koeppens Roman „Tauben im Gras“

Dieser Text kann weiter unten auch als pdf-Datei heruntergeladen werden.

Diese Übersicht zeigt, wie sich Schritt für Schritt die erzählte Welt vor den Augen des Lesers aufbaut. Bezugspunkt sind dabei die einzelnen Erzähl-Episoden, die fortlaufend durchnummeriert werden. In Klammern werden auch die Seiten der gängigen Taschenbuch-Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 601 angegeben.

Das Besondere an dieser Übersicht ist, dass zunächst kurz etwas zum Inhalt der Episode gesagt wird und dann anschließend auf die Bausteine eingegangen wird, aus denen die erzählte Welt errichtet wird.

E1 (9): Prolog 1: Flugzeuge als unheilverkündende, aber nicht beachtete Vögel am Himmel

Kurzbeschreibung der allgemeinen Situation: „Flieger sind über der Stadt, unheilverkündende Vögel.“ Sie werden nicht beachtet.

[Signal kommenden Unheils]

E2 (9-10): Prolog 2: Konflikte um Ressourcen und die eher konfliktverschärfende Presse

Genaueres Eingehen auf die Ursachen/Probleme der erneuten Kriegsgefahr: Kampf um Öl, Rüstung, vergangenheitsverliebte Pressewelt

[Signal der fortwährenden Konflikte um materielle Güter, unterstützt von der Presse]

E3 (10-13): Der Filmheld Alexander als Vertreter der eskapistischen Filmindustrie

Die falsche Welt des Film-Erzherzogs Alexander, der seine Frau betrügt und sein Kind – siehe den nächsten Punkt – vernachlässigt.

[Der Erzherzog steht für die Unterhaltungskunst, die eher eskapistisch ist, d.h. den Menschen eine zu leichte Flucht aus dem wirklichen Leben und der Verantwortung ermöglicht.]

E4 (13-15): Kinderschicksal: Vernachlässigung und Erziehung durch psychische Gewalt

Hillegondas (Tochter Alexanders) Leiden an ihrer Kinderfrau Emmi und deren gewalttätig daherkommender Kirchenfrömmigkeit

[Kritik an Kirche, Erziehung und nicht funktionierendem Familienleben, auch das relativ moderne Thema der Vernachlässigung der Kinder vor dem Hintergrund der Karrierebedürfnisse der Eltern erscheint hier.]

E5 (15-17): Beziehungskrise – auch hier bleibt nur das Mittel der Flucht

Philipp verlässt sein Fluchthotel: „der schale Abfall der Lust“ – später wird deutlich, dass er vor seiner hin und wieder von Tobsuchtsanfällen heimgesuchten Frau geflohen ist.

[Hier wird eine andere Art der Bewältigungsindustrie deutlich, nämlich die der Bordelle.]

E6 (17-20): Frau Behrend als Beispiel für die „besseren Kreise“ und unbewältigte Vergangenheit

Frau Behrend und ihre wenig selbstkritische „Verarbeitung“ der Vergangenheit mit Trivialliteratur: Für ihn stellt die NS-Vergangenheit ein „Bild schöner Tage“ bereit; was die Sieger angeht, hat sie nur die sehr einseitige Sicht: „Konnten sie uns nicht in Ruhe lassen?“; sie verfügt anscheinend noch über genügend Möglichkeiten, sich auch mit relativen Luxuswaren zu versorgen. Dabei spielen schon wieder Juden im altvertrauten Rollenklischee des Händlers eine Rolle, es ist zwar von ihrem „geretteten Leben“ die Rede, aber nur in dem Zusammenhang, dass sie „mit dem geretteten Leben nichts anderes zu beginnen wußten“ als wieder Geschäfte zu machen. Der Holocaust wird völlig ausgeblendet, stattdessen zeigen sich fortdauernde antisemitische Klischees.

[Hier wird am deutlichsten, wie sehr die belastete Vergangenheit nicht verarbeitet worden ist.]

E7 (20-22): Philipp als Beispiel für den überforderten Schriftsteller

Der Schriftsteller Philipp und sein Problem mit der Zeit, er fühlt sich auf einem „Posten“, kann aber gar nicht „beobachten“

[Hier wird erstmals genauer auf Schriftsteller eingegangen, vorausgesetzt wird die Vorstellung, dass diese Berufsgruppe für die Menschheit eine wichtige Funktion hat – der wird dieser Vertreter aber gerade nicht gerecht. Hier taucht die Frage auf, ob das ein persönliches Problem dieses Schriftstellers ist, ob es zu dieser Zeit gehört oder vielleicht auch grundsätzlich ein Problem ist. Spannend wird es natürlich, wenn man denkt, dass der Verfasser des Romans ja damit sich selbste und sein Werk in Frage stellt – er aber hat im Unterschied zu Philipp beobachtet. Warum also dann diese Figur in dieser Konturierung? Nicht vergessen werden darf dabei, wie sehr auch dieser Mann unter dem Krieg gelitten hat – er kann sich nur an eine „tote Stadt“ erinnern. Gerade die Vergänglichkeit hat der Krieg deutlich gemacht und damit die Zerstörung aller Gewissheiten und Sicherheiten.]

E8 (22-23): Eine Jungengruppe im Kino – beim Warten auf den nächsten Führer

Die Jungengruppe im Kino und ihr Warten auf den „Trommler“

[Hier sieht man das Fortwirken der NS-Propaganda. Hitler hat ja selbst in einer berühmten Rede davon gesprochen, dass die von seinen Leuten erzogene Jugend nichts anderes kennen wird als seine Welt, die des Kampfes und der Gewalt.]

E9 (23-24): Die Welt der Flüchtlinge, die in die Stadt zurückkehren können und doch verloren sind

Die wachsende Stadt – keine Zuzugssperre mehr – (Stadt I-Episode)

[Hier wird deutlich, was der Krieg mit den Menschen gemacht hat – in welche Verlustposition sie geraten sind, was vieles erklärt.]

E10 (24-25): Dr. Behude als Arzt, der sich auf Friedensbetrieb umstellen muss

Blutspende des Doktor Behude (Psychotherapeut), der als Kriegsmediziner nicht mehr gebraucht wird

[Am Rande wird deutlich, wieviel menschliches Leiden es im Krieg gab – im Vordergrund steht allerdings der Verlust einer Existenz und die Notwendigkeit von Opfern zum Aufbau einer neuen.]

E11 (25-26): Kontrast zwischen den relativ glücklichen Rückkehrern und erneuter Bedrohung

Die Rückkehr der aus der Stadt vertriebenen Flüchtlinge nach Aufhebung der „Zuzugssperre“, sind „glücklich in der Heimat“ – während gleichzeitig „SUPERBOMBER“ in Europa stationiert werden, wie eine eingefügte Zeitungsüberschrift verrät (Stadt II-Episode)

[Hier steht der Kontrast im Vordergrund – zwischen der sich langsam wieder begrünenden Menschenwelt – wie nach einem Vulkanausbruch – und dem erneuten Donnergrollen.]

E12 (26): Der farbige Odysseus Cotton – gehört zu den Siegern und kennt doch auch Diskriminierung

Odysseus Cotton, ein Farbiger aus den USA, erkundet die Welt der Besiegten und denkt gleichzeitig an seine eigene Diskriminierung in den USA.

[Hier taucht erstmals einer aus der Welt der Sieger auf – aber es ist einer, der selbst ein Päckchen zu tragen hat. Hier wird auch deutlich, dass es zu billig wäre, Koeppens Roman nur als Kritik an der Restauration der Adenauerzeit nach dem Krieg zu sehen, also einer Zeit, in der es vor allem um das Überleben ging – vgl. das Wirtschaftswunder – und Fragen von Verantwortung und Schuld beiseitegeschoben wurden. Bezeichnend ist, dass in dieser Zeit der Geschichtsunterricht häufig mit der Kaiserzeit oder dem Ersten Weltkrieg aufhörte.]

E13 (27-28): Genaueres Eingehen auf Philipps Probleme: Beziehungskrise und Gefühl der Leere

Philipp versucht, Dr. Behude zu erreichen, der als Psychiater ihn „von Schuld und Buße befreien“ soll. Zwischendurch denkt er an Emilia, die in ihrer gemeinsamen Wohnung wohl wieder einen Tobsuchtsanfall hatte, ansonsten sind alle möglichen Tiere um sie herum „in einer gemeinsamen Front des Hasses gegen Philipp vereint“; dieser fühlt sich leer und weiß nicht, „wie er den Tag verbringen sollte“.

[Auch hier eine Flucht. Die Frage ist, ob die Beziehungsprobleme allgemeiner Natur sind oder doch auch Ergebnis des Krieges]

E14 (28-29): Anbahnung einer Beziehung zwischen einem Sieger und einem Verlierer

Relativ positive Episode, die mit der Freude von Odysseus beginnt, der voll Vertrauen in einen neuen Tag schaut, dazu kommt Josef, ein überlebender Kriegsveteran, der als Kofferträger arbeitet und dem die Kollegen die Familie ersetzen und das Leben möglichst leicht machen, so dass er als „Papa der leichten Kommissionen“ bezeichnet wird. Was ihn mit Odysseus verbindet, ist ebenfalls die positive Einstellung: „Er trautet dem Tag.“ Er weiß auch, andere für sich einzunehmen, ihm geht es dabei aber nur um „Freigebigkeit“, die ihm das Überleben in der Nachkriegszeit sichert.

[Erstaunlich ist hier, dass ein Überlebender des Krieges und seine Umgebung relativ positiv gezeichnet werden. Im Unterschied zur Nazi-Ideologie gibt es hier so etwas wie wirkliche Solidarität mit einem Schwächeren.]

E15 (30-32): Genauere Vorstellung Emilias und ihrer Hassliebe gegenüber dem Versager Philipp

Emilia wird von ihren Tieren geweckt, die ihre „Freunde“ und „Gefährten der glücklichen Kindheit, aus der Emilia nun vertrieben war“; zu den Tieren ist Emilia gut, den Menschen gegenüber böse; sie sucht Philipp, von dem sie sich verlassen fühlt und dessen Arbeit als Schriftsteller sie hasst – und gleichzeitig meint als Erwerbsquelle zu brauchen. Es wird deutlich, dass sie Philipp auch emotional sehr gegensätzlich gegenübersteht: Sie hasst ihn und liebt ihn gleichzeitig; sein Bild braucht sie sogar für ihre anschließende Selbstbefriedigung.

[Besonders bei dieser extrem gezeichneten Figur taucht die Frage nach ihrer Funktion für die Aussage des Romans auf: Klar ist, dass diese Frau in gewisser Weise zu Frau Behrend gehört, weil sie auch unter materiellen Verlusten leidet und ihre Beziehung ganz unter einen Erfolgszwang stellt. Am Ende hilft ihr genauso wie den Menschen aus dem Umfeld von Philipps Bordell-Hotel nur eien Form der entfremdeten, uneigentlichen Sexualität.]

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