Brigitte Kronauer, „Porträt Nr. 5 Ehepaar Dortwang“ oder: „In der Ruhe liegt der Ausbruch“ (Mat647)

Worum es hier geht:

Die Kurzgeschcihte „Porträt Nr. 5 Ehepaar Dortwang“ von Brigitte Kronauer ist u.a. hier zu finden:

Sie beschreibt eine recht extreme Beziehung in einer Ehe, bei der die Frau dominiert und der Mann sich nur ein bisschen eigenes Innenleben gönnt.

Zum Wendepunkt kommt es durch das plötzliche Verschwinden des Mannes und sein genau so plötzliches Wiederauftauchen mit einer Freundin.

Am Ende dann die Andeutung eines leisen, aber souveränen Ausbruchs aus einer alten Beziehung, die anscheinend immer belastet war von absoluter Bevormundung.

Am Ende kam uns der Satz in den Sinn:

„In der Ruhe liegt die Kraft“.

Es bot sich an, ihn in diesem Falle abzuändern in:

„In der Ruhe liegt der Ausbruch.“

Vielleicht fällt jemandem noch eine schönere Variante des Titels der Geschichte ein.

Nun aber zu ihren Besonderheiten:

 

Etwas ungewöhnlicher Einstieg

  • Der Text beginnt für eine Kurzgeschichte recht ungewöhnlich. Er steigt zwar direkt ein, aber alles geschieht aus der Perspektive eines doch ziemlich abgehobenen Erzählers.
  • Dieser ist auch noch ziemlich auktorial, denn er gibt gleich seinen Kommentar ab:
    Zwischen den Eheleuten Dortwang ergibt sich nämlich bei einem Kleingärtnerfest „die wohl leidenschaftlichste Verständigung ihres ganzen s zwanzig Jahre alten Ehelebens“.
  • Dann allerdings wird es eher wieder personal, denn der Erzähler gibt etwas Wichtiges wieder, was Frau Dortwang in den Sinn kommt: „Fügung“ bzw. „Schicksal“.
  • Damit ergibt sich ein hohes Maß an Leserlenkung, denn man ist jetzt gespannt, wie diese Dinge zusammenhängen: die zufällige Teilnahme an einem Fest und dann fast das Eingreifen höherer Mächte.

Vorstellung der beiden Hauptfiguren

  • Als nächstes wird der Ehemann genauer vorgestellt – auch hier wieder eine sehr auktoriale Erzählperspektive: Der Erzähler weiß nicht nur alles, sondern er bewertet es auch gleich: Der Mann wird als erstes als „umständlicher Erzähler“ charakterisiert.
  • Angedeutet wird aber zumindest eine Spur von „Eigensinnigkeit“, wenn Herr Dortwang dem Formulierungsvorschlag seiner Frau doch eine eigene Variante entgegensetzt.
  • Im selben und noch verstärkten Stil geht es dann bei der Ehefrau weiter. Sie ist eine „außerordentlich imponierende, energische Ehefrau“, die mit ihrem Gatten „keine Schwierigkeiten“ hat.
  • An mehreren Beispielen wird dann deutlich, in welchem Ausmaß diese Frau ihren Mann dominiert. Sie
    • „bestimmte, welche Beziehungen zur Umwelt unterhalten wurden,
    • legte die Urteile über gemeinsame Bekannte fest
    • und ordnete an, wann sie geändert werden durften und in welcher Weise.“
  • Sie versteht es auch,
    • „ihren Mann im noch privateren Zusammenleben zu dirigieren“,
    • „sich seinen stets Zeit raubenden Betrachtungen zu entziehen“
    • und „ihn aus seinem Hang zur gelegentlichen [… ] aufzuschrecken“
  • Am Ende dann das Totalurteil: „Und so in allem anderen auch!“
  • Leserlenkung: Wenn man jetzt Ansätze von „Eigensinnigkeit“ beim Mann mit diesem Totalangriff auf seine Persönlichkeite verbindet, ahnt man schon, dass das auf Widerstand bzw. Ausbruch oder aber endgültige Selbstvernichtung als selbstständiger Mensch hinausläuft.

Das stille Zweitleben des Mannes

  • Im nächsten Teil differenziert sich das Bild aus. Zunächst ist davon die Rede, dass Herr Dortwang mit seiner Frau „zufrieden“ ist.
  • Dann aber wird deutlich, dass es bei ihm anscheinend noch ein zweites Leben gibt, das er aber bedeckt hält.
    • Man kann diesen Mann auch „herzlich lachend“ erlebend – das geht in eine andere Richtung als bei seiner Frau.
    • Der Erzähler spricht sogar davon, dass die Augen des Mannes „möglicherweise sogar spöttisch funkelten […]als begriffe er alles und amüsierte sich gelassen dabei.“
    • Dann die vorsichtige Zurücknahme dieses geheimen Lebens:
      „und hatte man es einmal gesehen, war man mißtrauisch für immer geworden – stand dieses Lachen plötzlich still, setzte aus und wurde grimassenhaft wieder aufgenommen, abrupt funkelnd, herzlich usw“
  • Dann wird es wieder richtig spannend, denn zumindest im Hinblick auf eine „junge Bekannte“ zeigt Herr Dortwang ein „Lächeln“, das seine Frau zur „Weißglut“ treibt.
  • In dem Zusammenhang präsentiert der Erzähler ein wunderschönes Beispiel für Körpersprache:
    • „Eine junge Bekannte, längst von ihr abgeurteilt, erzeugte, nach ihrer Verbannung, sobald der Name fiel, auf Herrn Dortwangs Gesicht ein Träumen. Es überflutete seine Wangen, seine Augen, sogar seine Stirn glät tete sich dann, und das Schlimmste: Er ahnte w es selbst anscheinend gar nicht, es widerfuhr ihm in aller Unschuld.“
    • Unglaublich die Reaktion der Ehefrau. Statt einer vorsichtigen Ausspache „sagte den Namen ab und zu zur Kontrolle.“
    • Aber auch hier eine souverände Reaktion des Mannes:
      „ Sie konnte ihn mit noch so viel Verdammnis belegen, Herr Dortwang lächelte verzückt in zärtlichem Erinnern“.
    • Wichtig dann die Einschränkung: „obschon doch nie etwas Anstößiges zwischen den beiden vorgefallen sein konnte und man die Person niemals wiedergesehen hatte.“
  • Das heißt: Es hat zumindest einmal einen kleinen Ausbruch aus dem menschlich-traurigen Ehealltag mit dieser letztlich doch übergriffigen Ehefrau gegeben.

Der Ausbruch des Mannes und die Reaktion der Frau

  • Die Ehefrau nutzt dann jede Gelegenheit, um deutlich zu machen, dass jeder Ausbruchsversucht aus normalem Eheleben nur auf die traurige Wirklichkeit eines Lebens im Altersheim zulaufe.
  • Das reicht dem Mann offensichtlich, jedenfalls nutzt er die Gelegenheit, auf dem angeblichen Weg zum Briefkasten einfach zu verschwinden.
  • Für seine Frau bedeutet das nur, dass er vor „jeder Pflicht davongelaufen“ ist. Das ist für sie ein „Streich“, den sie „zu unglaublich“ findet. Eine Formulierung, die zeigt, in welchen Glaubensverhältnissen diese Frau befangen ist, jenseits einer vielfältigen, bunten Realität.

Auflösung des Problems

  • Im Schlussteil kehrt die Geschichte dann zum Anfang zurück – es geht um das Fest, auf dem Herr Dortwang zu sehen ist, „heiter eine junge, ihnen unbekannte Frau umbalzend“.
  • Damit ergibt sich ein Eklat der besonderen Art:
    • Frau Dortwang wie früher schon immer: „rüstete sich, errötend und erblassend, zu Gefecht und Befehl.“
    • Und dann ein schönes offenes Ende, bei dem man aber als Leser schon ahnt, in welche Richtung es geht:
      „Da begegnete sie dem Blick ihres Mannes.“

Kreative Erweiterung

  • Was jetzt von der Gesamtentwicklung her vorgegeben ist, kann man sich vorstellen: Der Mann kann seiner Frau deutlich machen, dass er dabei sei, all die Jahre der Unterdrückung nicht aufzuarbeiten, sondern vielleicht „wegzuleben“ – denn das Eheleben kann ja als Leben kaum bezeichnet werden.
  • Wenn man an seine frühere Schwerfälligkeit denkt, könnte man ihn zum Beispiel so reden lassen:
    • „Ach Margarete, du hast viele Jahre lang …
    • Frau Dortwang fällt ein: „Na, was, Artur, sag’s ruhig.“
    • Herr Dortwang: „das Sagen gehabt, ich verzichte jetzt darauf und wende mich dem Schönen zu.“
    • Damit könnte er dann tanzend entschweben, während Frau Dortwang empört das Fest verlässt.

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