Kurt Tucholsky, “ Liebespaar am Fenster“ – als Gedicht der „Neuen Sachlichkeit“ (Mat8117)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird ein Gedicht der sogenannten „Neuen Sachlichkeit“, das einen gemeinsamen Moment am Fenster mit Blick auf die Straße ohne große Gefühle und Erwartungen beschreibt.

Text und Kommentar

Kurt Tucholsky

Liebespaar am Fenster

Strophe 1

  1. Dies ist ein Sonntagvormittag;
  2. wir lehnen so zum Spaße
  3. leicht ermüdet zum Fenster hinaus
  4. und sehen auf die Straße.
  5. Die Sonne scheint. Das Leben rinnt.
  6. Ein kleiner Hund, ein dickes Kind …
  7. Wir haben uns gefunden
  8. für Tage, Wochen, Monate
  9. und für Stunden – für Stunden.
  • Das Gedicht beginnt mit der Betonung des Zeitpunktes, es ist ein Sonntagvormittag. Das bedeutet in der Regel, man hat frei und noch den größten Teil des Tages vor sich.
  • Es folgt dann aber ein Hinweis, der in die Gegenrichtung geht. Dieses Paar, das da am Fenster steht, ist zum einen „ermüdet“, zum anderen gucken Sie nur „zum Spaß“ aus dem Fenster auf die Straße.
  • Das tut man nur, wenn man im Haus und miteinander nichts Besseres zu tun hat oder es draußen etwas Interessanteres zu sehen gibt – beides kein gutes Zeichen für eine Beziehung.
  • Leserlenkung:
    Was die Ursache der Müdigkeit angeht, gibt es natürlich bei einem Liebespaar unterschiedliche Möglichkeiten. Sie können auch eine aufregende Liebesnacht hinter sich gehabt haben.
  • Was das Liebespaar sieht, ist zum einen etwas Konkretes, nämlich Sonnenschein. Zum anderen wird das Leben aber auch interpretiert – als etwas Dahinrinnendes.
  • Darauf wird aber nicht näher eingegangen. Stattdessen zwei weitere Beobachtungen.
  • Dann die Beschreibung ihrer Situation als Liebespaar – ganz sachlich-nüchtern – mit unbestimmtem Zeithorizont.
  • Die Wiederholung des Wortes „Stunden“ könnte sich auf die schon vermutete Intensität kurzzeitiger Begegnungen beziehen.

Strophe 2

  1. Ich, der Mann, denke mir nichts.
  2. Heut kann ich zu Hause bleiben,
  3. heute geh ich nicht ins Büro –
  4. … an die Steuer muß ich noch schreiben …
  5. Wie viel Uhr? Ich weiß nicht genau.
  6. Sie ist zu mir wie eine Frau,
  7. ich fühl mich ihr verbunden
  8. für Tage, Wochen, Monate
  9. und für Stunden – für Stunden.
  • In der zweiten Strophe wird aus dem „wir“ des Anfangs eine Verengung der Perspektive auf den Mann.
  • Er freut sich auf das Nichtstun am Sonntag.
  • Aber er hat auch zumindest eine Aufgabe im Kopf, die er noch erledigen muss.
  • Oh, dieser Teil beginnt mit der verständlichen Einstellung zu Uhrzeit. Man denkt, es waren sie, aber sie hat keine große Bedeutung.
  • Es folgt die Frage nach der Uhrzeit – aber sie ist wohl nicht wichtig.
  • Es folgt die Beschreibung der Beziehung zu der Partnerin. Die erscheint relativ distanziert. Das merkt man vor allen Dingen an dem Vergleich: Sie sei für ihn „wie eine Frau“. Und es gibt zwischen ihnen auch nur Verbundenheit, keine darüber hinausgehenden Gefühle.

Strophe 3

  1. Ich, die Frau, bin gern bei ihm.
  2. Von Heiraten wird nicht gesprochen.
  3. Aber eines Tages will ich ihn mir
  4. ganz und gar unterjochen.
  5. Die Dicke, daneben auf ihrem Balkon,
  6. gibt ihrem Kinde einen Bonbon
  7. und spielt mit ihren Hunden …
  8. So soll mein Leben auch einmal sein –
  9. und nicht nur für Stunden – für Stunden.
  • Nach dem Mann spricht nun die Frau – selbst beim Sprechen scheint es keine Gemeinsamkeit zwischen den beiden Partnern zu geben.
  • Auch hier kein Wort von Liebe, nur von „gern bei ihm“ sein.
  • Erstaunlicherweise wird anscheinend trotzdem beklagt, dass von von einer Heirat „nicht gesprochen“ wird. Das entspricht der sozialen Situation der Frauen in der Weimarer Republik. Der Status als Ehefrau galt als Normalfall.
  • Auch nicht gerade für Liebe spricht das Ziel, das die Frau verfolgt, nämlich den Mann zu „unterjochen“. Das ist meistens eher eine Sorge des Mannes als ein klares Bekenntnis der Frau.
  • Der Rest der Strophe zeigt dann eine Situation, die die Frau sich wünscht. Sie macht auch deutlich, dass sich darauf ihre Zeitvorstellung ausrichtet.

Strophe 4:

  1. Von Kopf zu Kopf umfließt uns ein Strom;
  2. noch sind wir ein Abenteuer.
  3. Eines Tages trennen wir uns,
  4. eine andere kommt … ein neuer …
  5. Oder wir bleiben für immer zusammen;
  6. dann erlöschen die großen Flammen,
  7. Gewohnheit wird, was Liebe war.
  8. Und nur in seltenen Sekunden
  9. blitzt Erinnerung auf an ein schönes Jahr,
  10. und an Stunden – an glückliche Stunden.
  • Diese Strophe betont die Dynamik des Lebens, bei dem es nichts Festes gibt, sondern nur Abenteuer, die mit der Zeit vergehen.
  • Dementsprechend ist die Beziehungsperspektive, die eine gewisse Beliebigkeit deutlich macht.
  • Am Schluss jetzt die scheinbar bessere Alternative. Man trennt sich nicht, aber die Abenteuerintensität des Anfangs hört auf.
  • Es bleibt nur Erinnerung an einzelne Momente, wie eine eben hier im Gedicht auch beschrieben wird, ein gemeinsamer Blick vom Balkon auf die Straße.

Zusammenfassung:

  • Insgesamt ein Gedicht, das eine Beziehung zeigt, die nur wenig Bindungskraft hat.
  • Deutlich werden auch schon sehr unterschiedliche Vorstellungen zwischen dem Mann und der Frau.
  • Am Ende eine Art bescheidenes Fazit des Abenteuers der Liebe. Wenn man zusammen bleibt, verschwindet die Begeisterung und es bleiben nur hin und wieder Erinnerungen an schöne Momente.
  • Insgesamt passt das Gedicht gut in die Epoche der „neuen Sachlichkeit“. Denn dort wurde – wenn möglich und nötig – alles heruntergebrochen aus den Wolken tiefer Gefühle in Richtung Normalität des Alltags.
  • Außerdem werden hier gewisse Rollenklischees deutlich, wie sie für frühere Zeiten und eben auch noch in der Weimarer Republik typisch waren:
    • Der Mann ist für das Einkommen zuständig und kann sich ansonsten eine gewisse Trägheit leisten.
    • Die Frau ist vor allem für das Kinderkriegen und ansonsten die Führung des Haushalts zuständig.

Kritik und kreative Anregung

  • Kritisieren könnte man an dem Gedicht, dass es sich letztlich auf das Ausmalen solcher Klischees beschränkt.
  • Das Einzige, was beunruhigend sein könnte, nämlich das Verrinnen der Zeit, wird nur kurz angedacht, dann aber übersprungen.
  • Das wäre eine gute Möglichkeit, ein Gegengedicht zu schreiben, bei dem einer der beiden Partner aus dieser Normalität ausbricht oder es zumindest versucht.

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