Lese-Tipp: Auszug aus der Schiller-Biografie von Peter-André Alt zu Schillers Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ (Mat6072)

Lese-Tipp: Auszug aus der Schiller-Biografie von Peter-André Alt zu Schillers Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“

Wir versuchen im Folgenden, eine kleine Hilfe zu geben für die, die sich intensiver mit Schillers Briefen „über die ästhetische Erziehung des Menschen“ beschäftigen wollen.

Es geht um einen Auszug aus dem folgenden Werk:

Peter-André Alt, Schiller. Leben-Werk-Zeit, Band II, Verlag C.H. Beck: München 2000, S. 129-153

Unser Ziel ist es, einen Überblick über die Seiten zu geben, der das eigene Lesen erleichtert:

  • S. 129: Der Verfasser gibt zunächst einen recht guten Überblick über die drei Teile, die 1795 veröffentlicht wurden. Man bekommt damit einen ersten Eindruck von dem, worum es Schiller geht.
    • 1. Teil (Brief 1-9): Schiller präsentiert seine Sicht der allgemeinen Lage, vor allem die mit der Arbeitsteilung verbundene Entfremdung und präsentiert seine Idee einer Verbesserung dieser Situation mit Hilfe einer erneuerten Auffassung von Kultur, woraus ein „Programm der ästhetischen Erziehung“ entsteht.
    • 2. Teil (Brief 10-16) : Genaueres Eingehen auf die „Triebstruktur des Menschen“ und die Bedeutung „des Schönen als vermittelnde Kraft“ im Hinblick auf die gegensätzlichen Kräfte im Menschen
    • 3. Teil (Brief 17-27): Genaueres Eingehen auf „den ästhetischen Zustand des Subjekts, seine integrative Leistung und dessen Funktion innerhalb der menschlichen Entwicklungsgeschichte“
  •  S. 129/130:
    • Vorgestellt wird Schillers Ausgangspunkt, die mit dem Fortschritt der Wissenschaft und der zunehmenden Arbeitsteilung verbundene „Zerrüttung“ des „inneren Menschen“,
    • was gut zu dem passt, was Karl Marx später als „Entfremdung“ bezeichnet hat.
    • Besonders einprägsam ist die Vorstellung, dass der Mensch so kein Ganzes mehr sein kann, sondern nur noch ein „Bruchstück“.
  • S. 130/131:
    • Hingewiesen wird auf Staat, Politik und Wissenschaft, die dem Menschen nach Schiller seine „Totalität“ nicht wiedergeben könnten.
    • Schiller setzt  auf „die Entwicklung praktischer, das heißt hier: ästhetischer Kultur“ (130).
    • Dieser künstlerisch tätige oder zumindest angehauchte Mensch soll sich von den Trends seiner Zeit fernhalten.
    • Halten soll er sich an „Ideale, Muster und Vorbilder“ (131).
    • Es geht dabei darum, „aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen“ (131)
    • Alt macht deutlich, wie sehr Schiller von einem „Wunschtraum intellektueller Autonomie“ (131) ausgeht.
  • S. 131/131
    • Hier geht es um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer solchen individuellen künstlerischen Entwicklung.
    • Dabei wird durchaus an einen „idealen Staat“ gedacht, wofür allerdings die „Überwindung der Einseitigkeit“ nötig ist, die sich für den Menschen seit der Antike ergeben hat.
    • Schiller glaubt, dass erst der Mensch sich ändern muss, bevor sich auch Staat und Gesellschaft ändern können.
    • Dies muss vor dem Hintergrund seiner Enttäuschung über die Fehlentwicklung der Französischen Revolution hin zu einem Terrorregime unter Robespierre gesehen werden.
  • 132:
    • Alt wendet sich dagegen, diese Überlegungen als „Zeugnis eines weltfremden Idealismus“ zu betrachten.
    • Alt verweist auf Schillers Beschäftigung mit der Politik in Frankreich, besonders das Scheitern der „politischen Ansprüche des Wohlfahrtsausschusses“ als Basis der Terrormacht Robespierres.
    • Stattdessen ist Schillers Schrift für Alt „eine der ersten europäischen Theorien der Moderne“.
  • S. 132/133
    • Hier geht Alt auf den zweiten Teil der Briefsammlung ein,
    • in dem es vor allem um die „Triebstrukturen“ im Menschen geht,
    • was Schiller sich vom Philosophen Immanuel Kant geholt habe.
    • Schiller unterscheidet zwischen
      • „Person“ = relativ stabile Identität des Menschen
      • und „Zustand“ = Aktivität und Veränderung
    • Bei den Trieben wird unterschieden zwischen
      • „sinnlichem“ oder „Sachtrieb“: Sein Ziel ist „die Verwirklichung der dem Individuum gegebenen Anlagen“
        Hier geht es also von innen nach außen.
      • und „Formtrieb“ = „Verinnerlichung der äußeren Wirklichkeitssubstanz“
        Hier geht es von außen nach innen. Dabei geht es vor allem darum, aus all dem Verwirrenden, was von außen kommt, eine einigermaßen einheitliche Sicht zu formen.
  • S. 133ff: Hier geht es um Schillers Quellen, durch die ihm Kants Thesen vermittelt wurden.
    • Interessant für uns eigentlich nur, dass Schiller der Ethik nicht den Vorrang einräumt, den sie bei Kant hat (vgl. S. 134)
    • Auf S. 135 wird dann noch mal genauer auf die beiden Triebe eingegangen:
      • Stofftrieb: „eine Spielart der dynamischen Inbesitznahme der empirischen Welt, die sich in Akten expansiver Willensproduktion vollzieht“
        Anscheinend ist hier so etwas gemeint wie: etwas sehen, was man unbedingt haben möchte – mit der Gefahr auch unmoralischer Methoden
      • „Formtrieb“: „Fähigkeit zum vernünftigen, auf sittliche Prinzipien gegründeten reflexiven Verarbeiten äußerer Erfahrungen“
        Dies wäre dann gewissermaßen die moralische Instanz im Inneren des Menschen, die ihn daran hindert, sich alles zu nehmen, was er begehrt.
      • Alt fasst die Veränderung der Theorie von Kant zu Schiller so zusammen, dass dieser die „transzendalphilosophisch abgeleitete Trieblehre“ „ins Feld der Ästhetik hinübergespielt“ habe.
      • Dabei seien dann anthropologische Fragen in den Vordergrund gerückt worden, erkenntnistheoretische in den Hintergrund.
  • 135ff: Der Philosoph Fichte als Quelle für Schiller
    • Fichte radikalisiert die „Idee menschlicher Freiheit“ (136)
    • Schiller übernimmt von Fichte die Idee, dass „die Welt des Subjekts durch dessen freie Tätigkeit umfassend konstituiert“ wird (136)
    • Im Unterschied zu Fichte geht Schiller aber stärker von einer eigenständigen Wirklichkeit aus,
    • womit sich ein Dualismus ergibt zwischen dem Subjekt und dem Objekt
    • Dazwischen soll für Schiller das Schöne vermitteln.
    • Das wiederum wird dann für Schiller zu einem Bildungsprogramm.
    • Auf der Seite 137/8 wird noch mal genauer auf die beiden Triebe eingegangen: Wir ziehen das folgende Zitat mal auseinander, damit die gedanklichen Elemente besser verarbeitet werden können.
      • „Der Stofftrieb gehorcht der externen Wirklichkeit,
        • daher notwendig dem Gesetz des Zufalls und der von ihm gesteuerten sinnlichen Erlebnisfähigkeit:
        • er zielt auf Glückserlebnisse durch Kommunikation, Zeitwahrnehmung und Welt Bezug.
      • Dagegen bleiben dem Formtrieb
        • das Reich der Gesetzmäßigkeit,
        • das Streben nach Vollkommenheit,
        • das Prinzip der Freiheit durch subjektive Selbstbestimmung vorbehalten.
      • Die jeweiligen Triebimpulse verkörpern die dem Menschen anlagebedingt verliehene Möglichkeit,
        • sich entweder über Expansion und Anhäufung äußerer Erfahrung zu verwirklichen
        • oder durch Konzentration und Verarbeitung der externen Welt Identität zu bilden.“
  • S. 138: Hier geht auf das Wesen des Schönen und den Spieltrieb des Menschen ein, der die „Selbstheilung“ des Menschen ermöglicht, „die Versöhnung der das Individuum isolierenden […] Partialtriebe“ – es kommt zu einer „harmonisierenden Erfahrung der Kunst“.
  • S. 139: Hier geht Alt näher auf den letzten Teil der Briefe ab Nr. 17 ein und damit auf das Funktionieren des Schönen. Unterschieden wird dabei zwischen der „schmelzenden“ Schönheit und der „energischen“ Variante.
    • Bei der „schmelzenden“ Schönheit geht es vor allem darum, die Grundtriebe in Grenzen zu halten
    • Bei der „energischen“ Schönheit sollen sie in ihrer Kraft bewahrt werden.
    • Auf der Seite 140 gibt es dann eine schöne Konkretisierung:
      „Der schmelzenden Schönheit fällt es zu, Verhärtungen zu überwinden, den unzivilisierten Menschen zu sensibilisieren, ihm den Sinn für Form und Geschmack einzupflanzen; der energischen Schönheit, die sich mit dem Konzept des Erhabenen beziehungsweise dem Begriff der Würde berührt, bleibt es aufgetragen, den ermüdeten Charakter aufzurichten und zu stärker Aktivität anzufeuern.“
    •  Weiter unten  wird dann darauf hingewiesen, dass Schiller leider sehr theoretisch bleibt.
    • In der Schule könnte man vielleicht die beiden „Schönheiten“ an folgendem Beispiel demonstrieren:
      • Da hat jemand versucht, seine Zuneigung zu einem anderen Menschen deutlich werden zu lassen. Aber das ist gründlich schief gegangen und es wird einem auch „schön“ deutlich gezeigt, was da falsch gemacht worden ist. Das akzeptiert man dann für sich, man hat etwas gelernt.
      • Nun könnte man den falschen Schluss aus der Erfahrung ziehen und sich sagen: „Ich kann es nicht besser, ich lass es lieber.“ An dieser Stelle nun greift die „energische“ Schönheit dessen, was man zu hören bekommen hat, ein und macht einem Mut, dran zu arbeiten.
    • Oder nehmen wir jetzt noch zwei literarische Beispiele:
      • Dabei fangen mir mit Schillers Freund Goethe an: Seine „Iphigenie“ hat der selbst als „verteufelt human“ beschrieben – das ist dann die „schmelzende“ Schönheit, die einen eher angesichts solcher Größe erschauern lässt. Dann zeigt das Drama um Iphigenie aber auch deren innere Kämpfe – und dass man sich zu der Humanität auch aufschwingen kann. Das wäre dann der Impuls der „energischen“ Schönheit.
      • Oder schauen wir uns die moderne Kurzgeschichte „Der Held“ an: Da wird ein schüchterner Junge als Held gefeiert, weil man seinen ängstlichen Griff bei einem Wasser-Unfall falsch interpretiert hat. Wer dann mit diesem „Helden“ mitfühlt, entdeckt vielleicht bei sich selbst Ähnliches. Dann aber bekommt man mit, wie dieser Junge auf seine Art und Weise zu einem wirklichen Helden wird – und wenn man dann dem nacheifert, dann haben die beiden Schönheiten sich im Schillerschen Sinne vereinigt. Die Kurzgeschichte ist übrigens hier zu finden:
      • Krüsand, Lars, „Der Held“
        https://textaussage.de/klassenarbeit-kurzgeschichte-lars-kruesand-der-held
        „In dieser Geschichte geht es um einen Helden, der überhaupt keiner ist, sondern eher durch Zufall in die Rolle hineingerutscht ist. Er hat dann auch einige Probleme damit und kommt auch schwer wieder aus aus der Nummer heraus. Am Ende gelingt es ihm zwar, aber auf eine Weise, die viele Fragen und Diskussionen auslösen dürfte.“
  • S. 140ff: Hier geht Alt auf den dritten Teil der Briefe Schillers ein. Als Schillers Absicht wird herausgearbeitet, „über die Beschreibung der im Spiel trieb angelegten Vermittlungskraft hinaus die dialektische Energie des Schönen zu verdeutlichen.“
    Interessant ist der kritische Hinweis auf S. 142, dass Schiller verlangt, dass die Kunst „unabhängig von Zwecken bleiben müsse“. Das passt natürlich nicht zur Schaubühne als einer „moralischen Anstalt“. Die soll ja gerade entsprechenden Zwecken genügen. Aber Schiller meint hier wohl Zwecke, die von außen an die Kunst herangetragen werden, während das Schicksal des Helden oder der Heldin eben im Werk aus sich selbst heraus wirkt – ohne festgelegte äußere Absicht.
  • S.143: Hier trägt Alt die Gedanken Schillers zum Verhältnis von „Stoff“ und „Form“ vor. Auf S. 144 wird dann ganz deutlich, dass die „Freiheit“, die dem Menschen über die „Schönheit“ versprochen wird, sich vor allem auf die Form, also die literarische Verarbeitung bezieht. Etwas weiter verteidigt Alt den Dichter dann gegen den Vorwurf, seine Ausführungen seien nur ein „Beitrag zur psychischen Entlastung des unmündigen Bürgers“ (144/145).
    Ganz im Gegenteil werden der Schönheit eminent politische Wirkungen zugeschrieben, wobei die kritische Distanz zur Entwicklung in der Französischen Revolution implizit angedeutet wird:
    „Der durch die Kunst verfeinerte Mensch bringt andere Voraussetzungen für das politische Geschäft mit als der theoretisch geschulte, jedoch phantasiearme intellektuelle. Ihm ist es möglich, die Veränderung der bestehenden Ordnung auf einen tiefgreifenden kulturellen Wandel zu stützen, wie er auch Hölderlin Mitte der 90er Jahre, freilich im Horizont eines plötzlichen Umbruchs, vorschwebt. Kunst erscheint Schiller nicht als Exil des enttäuschten politischen Kopfes, sondern als Instanz, die den Umbau der gegebenen Gesellschaft zu fördern vermag.“ (144)
  • 145ff: Vorstellung der Stufenfolge im 23. Brief
    • physischer Zustand = unzivilisiert
    • ästhetischer Zustand = Mensch entledigt sich der Macht der Natur
    • moralischer Zustand = Mensch beherrscht die Macht der Natur
  • 145/146: Herstellung einer Verbindung zwischen der individuellen und der gesellschaftlich-historischen Entwicklung
    Besondere Hervorhebung der Rechtfertigung Schillers des „schönen Scheins“ der Kunst – Abgrenzung von Rousseau
    Man wird hier an die Katharsis-Lehre von Aristoteles erinnert, mit der er sich gegen den Vorwurf von Platon wehrte, die Dichter würden nur lügen und nichts zur moralischen Verfassung des Staates beitragen.
  • S. 147/148: Vergleich der Auffassungen von Schiller und Hegel: Schiller glaubt nur an eine kurze Wirkung der Kunst, während Hegel ihr in seinem dialektischen Konzept der „Aufhebung“ mehr zutraut.
  • S. 148: Kritische Einordnung von Schillers Theorie: „sie wirkt methodisch unstimmig“, „Inkonsistenz“; Verteidigung: Schiller sei so „uneinheitlich“, wie das Phänomen selbst „unzugänglich“ sei.
  • S. 148/9: Anmerkungen zu Schillers „Vision vom ästhetischen Staat“: Hier kommt Alt zu einem recht kritischen Urteil, bei dem er annimmt, dass schon Schiller selbst gewusst hat, dass er hier ein „Phantom“ beschreibt. Interessant die biografisch-psychologische Erklärung: Wir ziehen den schwierig gebauten Satz mal auseinander:
    • „Nach den Enttäuschungen, die in die Welt der Politik bereitete, [Gemeint ist vor allem die Entwicklung in der Französischen Revolution]
      scheint Schiller die Emigration ins Reich der ästhetischen Erfahrung die einzig verbleibende Option, [die Poesie als einzig verbliebener Fluchtort]
    • um den Anspruch auf die Verwirklichung jener Universalität einzulösen, [um das zu erreichen, wozu der Mensch bestimmt ist, was er aber in der für Schiller damals modernen Welt weitgehend verloren hat]
    • die den modernen Menschen aus seiner entfremdeten Lebenswelt befreien, [Hier wird Schillers kritische Sicht auf seine Gegenwart mit einem Begriff von Karl Marx zusammengefasst]
    • die Zerrüttungen, in denen der existiert, heilen, [Gemeint sind hier die Aufspaltungen, die Ausdifferenzierung, die zum Verlust der Totalität geführt hat, die die Griechen noch hatten]
    • die Entzweiungen, die ihn regieren, überwinden kann.“ [Dies ist nur noch eine weitgehend synonyme Wiederholung des eben Gesagten]
  • S. 149: Kurze Klärung des Verhältnisses der Vorstellungen von Schiller und Novalis – als einem der Vertreter der Romantik
  • S. 150ff Hinweise auf die Rezeption von Schillers Gedankengebäude, Hervorhebung: vielfältige zeitgenössische Kritik, aus heutiger Sicht durchaus eine gewisse Modernität und Aktualität:
    • „Es scheint offenkundig,
    • dass Schillers synthetische Konzeption des Kunstschönen
    • einzig um den Preis methodischer Inkonsequenz zu gewinnen war.
    • Seine wesentliche theoretische Leistung liegt im Versuch, die sinnliche Kultur des Menschen als Manövriermasse in das Projekt seine Selbstbestimmung einzubringen.
    • Dass die angestrebte Überwindung des durch KJant festgeschriebenen Dualismus
    • letzthin zu einer Vertiefung des Gegensatzes zwischen beiden Bereichen,
    • kaum aber zu seiner Aufhebung beiträgt,
    • begründet die unbeabsichtigte Modernität der Ästhetik Schillers.“   (152)

 

Siehe auch:

Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen, Sechster Brief

https://textaussage.de/schnell-durchblicken-friedrich-schiller-ueber-die-aesthetische-erziehung-des-menschen-sechster-brief

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