Lichtenstein, Regennacht, expressionismus – Gedicht verstehen, entschlüsseln, knacken (Mat1120)

Worum es hier geht:

Wie „knackt“ man ein schwieriges Gedicht? Am Beispiel von Lichtenstein, „Regennacht“

Das folgende Gedicht stammt aus der Zeit des Expressionismus, was hier erst einmal unwichtig ist. Uns geht es nämlich darum zu zeigen, wie man sich solche – auf den ersten Blick – sehr schwierigen Gedichte selbst klar machen kann. Dann kann sie nämlich auch in einer Klausur oder Klassenarbeit zum Beispiel anderen Leuten und besonders dem Lehrer erfolgreich vorstellen.

Alfred Lichtenstein

Regennacht

Strophe 1:
01 Der Tag ist futsch. Der Himmel ist ersoffen.
02 Wie falsche Perlen liegen kleine Stumpen
03 Zerhackten Lichts umher und machen offen
04 Ein wenig Straße, ein paar Häuserklumpen.

  • Der Titel setzt schon mal einen ersten, allerdings sehr allgemein Akzent. Man weiß jetzt zumindest, dass es um zwei Dinge geht, zum einen um eine Nacht und zum anderen dass in dieser Nacht Regen eine Rolle spielt.
  • Die erste Zeile beginnt sehr burschikos, in stark umgangssprachlicher Form wird deutlich gemacht, dass der Tag jetzt vergangen ist. Das wird dargestellt, als ob es sich um einen Verlust handelt („futsch“).
  • Der Rest der ersten Zeile gehen dann genauer auf den Verlust ein, es handelt sich um den Himmel als Ort des Lichtes und als Voraussetzung für normale Tagestätigkeit.
  • Das wird dann mit dem Regen verbunden in der Weise, dass das lyrische Ich sich vorstellt, der Himmel sei in den Wasserpflützen, die sich vor ihm – zum Beispiel auf der Straße – bilden, regelrecht versoffen.
  • Mit dem Wort ist natürlich auch etwas wie Tod oder allgemein: Ende des Lebens verbunden.
  • Das lyrische Ich beschreibt dann genauer, was es vor sich sieht. Das geschieht in einem Vergleich, der an das Vorangehende anschließt: Der Himmel mit seinem Licht ist zwar vorbei, aber es gibt jetzt wahrscheinlich das Licht der Straßenlaternen oder auch der Reklame. Das wird vom Lyrischen Ich mit falschen Perlen verbunden – es ist also keine erste Wahl.
  • Es folgt ein weiterer Vergleich mit Stumpen. Das Wort muss geklärt werden. Wahrscheinlich handelt es sich um Reste von Zigarren, die zur Zeit der Entstehung des Gedichtes eher noch für Wohlstand standen. Das Licht ist auch nicht mehr in seiner ganzen Fülle da, sondern zerhackt, entsprechend den jeweiligen kleinen Lichtquellen.
  • Interessant ist dann der Schluss. Da heißt es, dieses Licht mache etwas offen, gemeint sind dabei wohl Schneisen, die zumindest ein bisschen in die Dunkelheit hinein geschlagen werden. Das was man sieht, wird wieder relativ verkleinert, reduziert dargestellt. Ein wenig Straßen und dann eben Häuserklumpen, was wohl soviel bedeutet wie das diese Häuser nur als dreidimensionale Objekte erscheinen, aber nicht in ihrer Differenziertheit und ohne die Schönheit, die sie vielleicht im Licht des Tages haben.

Strophe 2:
05 Verfault ist alles sonst und aufgefressen
06 Von schwarzem Nebel, der wie eine Mauer
07 Herunterfällt und morsch ist. Und im Pressen
08 Bröckelt wie Schutt der Regen – dichter – grauer –

  • In der zweiten Strophe kommt ein neuer Aspekt hinzu, nämlich der Nebel, der mit diesem Regen auch verbunden ist.
  • Hervorgehoben wird das Moment des Verfault- und Aufgefressen-werdens, also zwei verschiedene Aspekte des Lebensendes.
  • Der Nebel wird dann durch das Herunterfallen wohl ganz offensichtlich mit dem Regen verbunden und ist also wohl eine Art Wasserdunst.
  • Das Element der Vergänglichkeit wird dabei aber aufrecht erhalten (verfault, morsch).
  • In der zweiten Hälfte kommt dann ein neuer Eindruck hinzu, nämlich der des Drückens, des Pressens. Das hängt wohl damit zusammen, dass der Regen jetzt dichter wird, was in den Komparativen („dichter“, „grauer“) deutlich wird.
  • Außerdem ergibt sich der Eindruck, dass der Regen gewissermaßen Klumpen („bröckelt“) bildet. Das ist dann ein weiteres Signal in Richtung Vergänglichkeit.
  • Insgesamt merkt man hier, dass es sich dabei um eine Art Leitmotiv handelt, das in verschiedenen Varianten immer wieder präsentiert werden. Zugleich hat man auch eine Bündelung ähnlicher Signale, was für die Frage der Aussage des Gedichtes wichtig ist und schon mal notiert werden sollte.
  • Der Schluss gehört dann diesen Komparativen, ein sehr schönes Beispiel für sprachliche Mittel, denn hier wird in sprachlichen Phänomenen verdeutlicht, was sich draußen real tut.

Strophe 3:
09 Als wollte jeden Augenblick die ganze
10 Verseuchte Finsternis zusammensinken.
11 Wie eine seltsame, ertrunkne Pflanze
12 Unten im Sumpf siehst du ein Auto blinken.

  • Hier haben wir erstmals einen Übergang zwischen der zweiten und der dritten Strophe.
  • Präsentiert wird das, was dem lyrischen Ich in den Sinn kommt, wenn es diesen stärker werdenden Regen betrachtet.
  • Deutlich werden dabei zwei Dinge,
    • nämlich einmal die Verbindung mit der Vorstellung von Gift („Verseuchte Finsternis“)
    • zum anderen das „zusammensinken“, also wieder das Motiv der Vergänglichkeit des Todes.
    • Außerdem wird mit „ertrunkne Pflanze“ noch mal das Motiv des Ertrinkens damit verbunden und das Sterben oder Vergehen gewissermaßen konkretisiert.
  • Dann ein plötzlicher Bruch, der Blick geht jetzt zu einem Auto, das in diesen allgemeinen Prozess des Versinkens eingebunden wird.
  • Das Element „Sumpf“ passt dann wieder zu den negativen Aspekten wie „verseucht“ u.ä.

Strophe 4:
13 Die ältsten Huren kommen angekrochen
14 Aus nassen Schatten – schwindsüchtige Kröten.
15 Dort schleicht eins. Dorten wird ein Schein erstochen.
16 Der Regensturz will alles übertöten …

  • In der vierten Strophe taucht dann ein völlig neues Element auf, nämlich der Mensch, aber auch in einer Gestalt, die damals, zur Zeit der Entstehung des Gedichtes nur negativ gesehen wurde.
  • Huren waren damals in den Augen des Bürgertums verkommene Frauen und nicht etwa Dienstleister, die sich die Erfüllung der Wünsche von Männern bezahlen ließen.
  • Die negative Sicht wird noch dadurch verstärkt, dass diese Huren verglichen werden mit Tieren.
  • Dann wird der Blick wieder konkreter, indem zwei Fälle herausgegriffen werden:
    • Das Schleichen bezieht sich wohl entweder auf eine Hure oder ihren Freier – interessant, dass das reduziert wird auf das sprachliche Neutrum.
    • Dann ist von einem „Schein“ die Rede, der „erstochen“ wird. Man könnte an einen Geldschein denken, man kann das aber auch verstehen als Verweis auf den schönen Schein, der normalerweise mit dem Verhältnis von Mann und Frau verbunden ist.
  • Die Strophe schließt mit der Personifikation des Regens, dem die Absicht unterstellt wird, dass er alles „übertöten“ wird – auch hier wieder das Motiv des Todes bzw. des Auslöschens.

Strophe 5:
17 Du aber wanderst durch die Wüsteneien.
18 Dein Kleid hängt schwer. Durchnäßt sind deine Schuhe.
19 Dein Auge ist verrückt von Gier und Schreien.
20 Und dieses treibt dich – und du hast nicht Ruhe:

  • In der fünften Strophe gibt es dann erstmals eine Anrede, sie kann sich beziehen auf das lyrische Ich selbst, aber auch auf den Leser.
  • Was die Situation angeht, wird eine unerfreuliche negative Umgebung angesprochen. Aufgenommen wird wieder der Gedanke der Regennacht, auch wenn der nicht so recht zur Wüste passt. Aber der Begriff ist hier wohl nicht im Sinne von Sandwüste zu verstehen, sondern eher im Sinne von unwirtliche Welt.
  • Aufgenommen wird dabei das Motiv des Regens, indem die negativen Begleiterscheinungen, denen das lyrische Ich ausgesetzt ist, eben auch mit Folgen des Regens verbunden werden.
  • Im Schlussteil wird noch ein anderes Problem angesprochen, nämlich die Kombination von „Gier“ und „Schreien“, wobei man nicht genau weiß, ob sie dem lyrischen Ich zugeordnet wird oder ob es sich auf Eindrücke von außen bezieht. Seltsam, dass das „Auge“, zuständig für optische Eindrücke, hier einem akustischen Phänomen zugeordnet wird.
  • Letztlich wird hier deutlich, dass der Mensch ein Getriebener ist und keine Ruhe findet.

Strophe 6:
21 Vielleicht erscheint inmitten düstrer Feuer
22 Der Teufel selbst in der Gestalt des Schweines.
23 Vielleicht geschieht etwas ganz ungeheuer
24 Blödsinniges, Brutales, Hundsgemeines.

  • In der sechsten Strophe wird dann eine Möglichkeit durchgespielt, nämlich dass diese ganze negative Umgebung und Atmosphäre noch einem Höhepunkt zustrebt, in dem gewissermaßen der Teufel als Herr der Finsternis selbst auch erscheint.
  • Zum zweiten Mal wird ein Tiervergleich verwendet, in diesem Falle geht es um das Schwein, das mit dem Teufel verbunden wird.
  • Dann am Ende noch eine größere negative Perspektive, die aber unkonkret bleibt.
  • In typische expressionistischer Manier wird irgendeine Art von Bedrohung bis hin zur Apokalypse vor dem Leser zumindest angedeutet..

Die Video-Dokumentation findet sich Mat1120-VidBegl Knacken schwieriger Gedichte.

Hier die Texte der Dokumentation:

Warum sind Gedichte so schwierig?
1.Gedichte = sehr komprimierte Texte vieles wird weggelassen oder nur angedeutet, was das Verständnis erleichtern würde.
2.Außerdem neigen Lyrik-Dichter besonders dazu, sich mehr oder weniger geheimnisvoll zu geben.
3.Am wichtigsten ist es, locker zu bleiben und die Analyse eines Gedichtes wie die Besichtigung eines Tatorts im Krimi zu begreifenSpiel zwischen dem “Täter” = Dichter und dem Schüler als Kommissar
4.Am besten mit dem Lehrer drüber reden, ob man das nicht so locker im Unterricht üben kann.
5.Auf jeden Fall sinnvoll: Selbst zum Profi zu werden, viel rumprobieren

Beispiel 1:

Eine schwierige Textstelle in einem modernen Gedicht

Franziska Holzheimer

Der Sturm

Als das Gewitter kam
waren wir noch oben
in den Bergen.

Wir standen,
die Arme verschränkt vor dem Bauch,
unter dem Vordach der Hütte
und schauten auf eine Welt,
die ungewohnt weit war
und dreidimensional.

Der ganze Text ist zu finden auf der Seite:
http://www.franziskaholzheimer.de/portfolio/der-sturm/

1.Überschrift: Hinweis auf ein besonderes, möglicherweise gefährliches Naturereignis, bei dem viel in Bewegung gerät.
2.Klärung der Situation: möglicherweise gefährlich(Assoziation, eigene Erfahrungen, Infos)
3.Konkrete Situation der Lyrischen Ichs u.a.:abwartende Haltung – in relativer Sicherheit
4.Beschreibung dessen, was man sieht und wie man es sieht:- “ungewohnt weit” = leicht verständlich- “dreidimensional” = schwierig’Assoziation -> Hypothese: plastisch, Konturen werden deutlicherhängt mit Luft zusammen; “reinigendes Gewitter”

Tipps:
1.Die Überschrift auswertenWas könnte damit gemeint sein?(Hypothesen bilden)
2.Was macht das “lyrische Ich”, das da im Gedicht den Leser anspricht?
1.Feststellung / Information / Eindruck
2.“futsch” = ist weg: vgl. Überschrift: Nacht
3.“futsch” = Umgangssprache
3.Himmel = “ersoffen”
1.Himmel = hier wohl das gemeint, was man im Freien über sich sieht
2.“ersoffen” = ertrunken -> in was?Überschrift: RegenVariante, Präzisierung von “ist futsch”
4.“Wie falsche Perlen” = Vergleich, wertlos, Betrug
5.“kleine Stumpen / Zerhackten Lichts”
1.Worterklärung nötig: Baumstumpf oder stumpf abgeschnittene Zigarre
2.Licht zerhackt = nach Sonnenuntergang = keine komplette Lichtflut neben Schatten, sondern einzelne Lichtbereiche, scharf abgetrennt.
6.“machen offen” = machen sichtbar
1.etwas von der Straße
2.und Häuser, die nur noch als “Klumpen” zu sehen sind.

 

Woran erkennt man, dass das Gedicht von Lichtenstein zum Expressionismus gehört