Fünf Survival-Tipps zur sicheren Interpretation, bsd. von Gedichten

Fünf Survival-Tipps zur sicheren Interpretation

Zum Thema Analysieren und Interpretieren gibt es viele Hilfen – aber es gibt auch Tipps, die nicht in jedem Schulbuch stehen – Und darum sprechen wir von Extra-Tipps. Wir haben fünf davon ausgewählt, mit deren Hilfe wir schon hunderte von Gedichten erfolgreich interpretiert haben. Einfach mal ausprobieren.

Alle, die Angst vor dem Interpretieren haben, sollten die folgenden Schritte kennen und vor allem auch ausprobieren. Das Ist vor allem bei Gedichten interessant, weil die häufig auf den ersten Blick schwer verständlich sind.

Vorab-Kurzübersicht

  1. Das induktive Vorgehen sorgt dafür, dass man die Signale eines Textes richtig aufnimmt und verarbeitet. Auf gut deutsch: Das Gedicht selbst versendet Signale. Man muss sie nur erkennen und auch gut beschreiben und auswerten können. Dabei wird man häufig erst mal nur eine Hypothese aufstellen können, also eine Vermutung.
  2. Das sogenannte hermeneutische Verfahren stellt sicher, dass man man nicht in eine falsche Richtung geht. Man bleibt gewissermaßen im Gespräch mit dem Text.
    Diesen Punkt ergänzen wir noch und beziehen die „Dialektik“ mit ein – die erklärt nämlich, wie man sich dabei immer tiefer in die „Wahrheit“ hineinbohrt (siehe weiter unten)
  3. Das, was ein Gedicht aussagt (Intention), findet man heraus, indem man die einzelnen Textsignale bündelt.
  4. Die künstlerischen und besonders sprachlichen Mittel, mit denen die Aussagen unterstützt werden, sollte man nicht suchen, sondern finden
  5. Der letzte Tipp bezieht sich auf die Frage des Sinns eines Gedichtes. Der ergibt sich, indem man es auf etwas anderes bezieht, ausgewertet im Hinblick auf etwas.

Survival-Tipp Nr. 1: „Induktiv“ vorgehen spart Zeit, ist sicher und macht dem Leser Freude

Es ist tatsächlich so, es gibt eine Vorgehensweise, die gleich drei Vorteile hat. „Induktiv“ bedeutet, dass man von „unten nach oben“ interpretiert. Das heißt: Man folgt einfach seinen Beobachtungen, entwickelt daraus Vermutungen, sichert die ab und kommt erst dann zu möglichst überzeugenden Schlussfolgerungen.

Das Gegenstück dazu heißt „deduktiv“, dabei beginnt man seine Darstellung gleich mit einer End-These und begründet diese anschließend.

Dabei kann einiges schiefgehen, deshalb unser Vorschlag, immer induktiv vorzugehen.

Vorteil Nr. 1: Zeit sparen

Man muss das Gedicht nicht gleich von ganz verstanden haben, sondern arbeitet sich Schritt für Schritt zu einem immer besseren Verständnis vor. Wir haben das übrigens überall bei unseren Interpretationen gemacht – Und das waren wie gesagt hUnd das waren wie gesagt Hunderte. Das heißt: Man kommt nicht in die Situation, erst mal stundenlang über die „richtige“ Interpretation nachzudenken – und dann hat man keine Zeit mehr zum Schreiben – und ganz am Ende merkt man auch noch, dass man etwas falsch verstanden hat.

Stattdessen geht man wie ein Kommissar an einem Tatort vor, betrachtet nacheinander alle Einzel-Elemente – bei einem Gedicht am besten in der Reihenfolge der Verszeilen – und dabei wird immer klarer, worauf der Text hinausläuft.

Vorteil Nr. 2: Sicherheit gewinnen

Das eben beschriebene Verfahren führt auch dazu, dass man wenig schnell auf einen Holzweg gerät. Darunter versteht man ja einen Weg in einem dichten Wald, dem man lange folgt – und dann stellt man fest, dass es eine Sackgasse ist und man muss wieder zurück.

Beim induktiven Verfahren muss man eine Interpretation nicht gleich mit einer abschließenden These beginnen, sondern arbeitet sich langsam, Schritt für Schritt zu ihr vor.

Das passt natürlich auch überhaupt besser zur Situation von Schülern, die im Unterschied zu Fachleuten nicht schon über ein gigantisches Wissen und Verständnis verfügen und bei jedem neuen Gedicht ziemlich schnell zu einem Urteil kommen können.

Vorteil Nr. 3: Es dem Leser leicht machen

Das induktive Verfahren hat auch noch den Vorteil, dass der Leser all das gut nachvollziehen kann, was ihm in der fertigen Interpretation präsentiert wird. Er wird nicht mit dem Ende einer langen Überlegung konfrontiert, sondern wird vom Interpreten gewissermaßen an die Hand genommen und langsam zum gemeinsamen Verständnisziel geführt.

Praktisches Beispiel:

Ludwig Tieck, „Einsamkeit“ – induktiv und hermeneutisch erklärt
https://textaussage.de/ludwig-tieck-einsamkeit

Gedicht „Nachtzauber“ von Eichendorff  induktiv und deduktiv erklärt
https://www.einfach-gezeigt.de/induktive-deduktive-interpretation-eichendorff-nachtzauber

Dazu gibt es auch ein Video:
Inzwischen gibt es auch ein Video zum Thema, das hier abgerufen werden kann:

https://youtu.be/RxHD1N8HS6E

Timeline des Videos: Wo findet man was?
0:00 Thema
1:30 Schaubild induktiv
2:40 Schaubild deduktiv
3:58 induktives Beispiel
5:20 Tipp zur Beschreibung
6:27 Deduktives  Beispiel
7:41 Zusammenfassung
10:00 Dokumentation

Survival-Tipp Nr. 2: Hermeneutik

Der zweite Geheimtipp hängt mit dem ersten zusammen und bedeutet nur, dass man sich immer wieder am Text orientiert und von dort aus seine Überlegungen präzisiert oder auch korrigiert.

Wir machen das mal an einem Alltagsbeispiel deutlich: Wenn man am Wochenende zum ersten Mal jemanden besucht, der eine Fete gibt, dann hat man beim Reinkommen gleich einen ersten Eindruck. Die Hermeneutiker nennen das das „Vorverständnis“. Das könnte zum Beispiel lauten: „Anscheinend fast keine Leute in meinem Alter– bin ich hier auf dem falschen Dampfer?“

Dieses Vorverständnis wird dann wieder überprüft, indem man weitere Eindrücke sammelt: Man sieht zum Beispiel in der Ecke jemanden, der auch neu zu sein scheint und setzt sich dazu. Es wird interessanter und man fühlt sich wohler.

Dann ergibt sich auch noch ein immer netteres Gespräch. Es läuft immer besser. Man hat vielleicht sogar den Eindruck, daraus könnte mehr werden.

Dann aber gibt es plötzlich eine Stelle, wo die andere Seite sehr abrupt, ja fast barsch reagiert. Schon glaubt man, das war es jetzt.

Man will schon gehen – da hört man ein „Sorry, aber ich bin an dem Punkt ziemlich empfindlich.“ Anschließend spricht man noch etwas mehr darüber und kann sich doch ganz gut verstehen.

Wenn man dann am Ende zufrieden und mit einer Telefonnummer und einigen Hoffnungen nach Hause geht, hat man etwas, was die Hermeneutiker „Horizontverschmelzung“ nennen, d.h. die eigene Ansicht stimmt weitgehend mit dem überein, was man vorgefunden hat.

Auf die Gedichtinterpretation übertragen bedeutet das, dass man auch mit einem Vorverständnis beginnt und das dann immer wieder am Text überprüft. Die Hermeneutiker sprechen davon, dass es zu einem „hermeneutischen Zirkel“ kommt, bei dem man wie bei einem Kreislauf immer wieder zwischen dem Objekt (dem Text) und dem Subjekt (dem Interpreten, also sich selbst) hin und herspringt. Dabei kommt man zu einem immer besseren Verständnis, bei dem man möglicherweise auch zwischendurch wieder etwas korrigieren muss.

Von daher wäre es eigentlich besser, von einer „hermeneutischen Spirale“ zu sprechen. Denn man bewegt sich ja hoffentlich nicht im Kreis, sondern kommt beim Immer-wieder-noch-mal-genau-Hingucken auch weiter.

  1. Am Ende aber hat man die maximal mögliche Verschmelzung des Textes mit dem eigenen Verständnis und bekommt in einer Klausur die maximale Punktzahl.

Es dürfte deutlich geworden sein, dass induktives Vorgehen und hermeneutisches Verfahren gewissermaßen die beiden Säulen des Erfolgs beim Interpretieren sind.

Ergänzung: Die „Bohrtechnik“ der Hermeneutik

Die ständige Überprüfung der aktuellen Interpretation am Text führt nicht nur zu einem Hin- und Her zwischen dem Leser und dem Text. Vielmehr dringt man auch immer tiefer in den Text und seine Aussage ein.

Hier kommt die sogenannte Dialektik ins Spiel – und die heißt beim Interpretieren:

  1. Die aktuelle Interpretation ist die „These“. Die betrachtet man aber nicht als endgültige Gewissheit, sondern nur als Annahme. So was nennt man „Hypothese“.
  2. Mit der geht man zum Text – und der sagt: Stimmt nicht ganz. Das ist die „Antithese“
  3. Dann denkt man darüber wieder nach und kommt zu einer besseren Lösung – das ist die Synthese.
  4. Die muss aber wieder am Text überprüft werden, ist also auch wieder nur eine Hypothese, wenn auch eine hoffentlich bessere.
  5. Mit der geht es dann wieder zum Text zurück. Wenn man Glück hat, sagt der ja – und der Prozess ist beendet. Oder aber es gibt wieder Probleme, also eine erneute Antithese. Also wieder zurück zum Leser.
  6. Wenn es gut läuft, kommt der zu einer neuen These, die dann wieder zur Hypothese wird und bestätigt wird oder einen weiteren Suchlauf auslöst.

Das hört sich komplizierter an als es ist.

Survival-Tipp Nr. 3: Signalbündelung hin zu Aussagen

Wenn man ein Gedicht durchgeht, wird man feststellen, dass sich dabei immer mehr bestimmte Richtungen herausbilden. Bei einem Stadtgedicht könnte das am Anfang zum Beispiel die Darstellung von unangenehmen Dingen sein, bevor das dann zum Beispiel Alternativen auf dem Land präsentiert werden. Natürlich geht es auch anders herum.
Das folgende Video liefert ein gutes Beispiel:
Videolink
https://youtu.be/qvHHFbCBzFA
Timeline des Videos: Wo findet man was?
0:00 Thema
0:57 Problem
1:55 E-Mail-Fall
2:35 Folgen
3:12 Privatgedicht
5:24 Schulgedicht
7:02 Städter-Gedicht
8:50 Signalbündelung
9:10 Formulierungsbeispiel
10:08 Künstlerische Mittel
11:33 Zusammenfassung
12:52 Doku

Survival-Tipp Nr. 4: Die wirklichen künstlerischen Mittel finden, nicht suchen

im deutsch Unterricht besteht der Umgang mit künstlerischen Mitteln häufig darin, dass man sie verzweifelt sucht. Und dann geht man irgendwelche Listen durch von Metaphern, Vergleichen, Steigerungen, Gegensätzen, Alterationen und so weiter. Die meisten Schriftsteller würden lachen, wenn man sich mit ihnen auf diese Art und Weise über ihre Gedichte unterhalten würde. Kaum einer von ihnen denkt sich: Hier sollte ich mal eine Metapher einbauen oder hier es mit einer Steigerung probieren.

In Wirklichkeit überlegt ein Schriftsteller einfach, welche Darstellung passt zu dem, was gesagt werden soll. Er prüft dann die Wirkung, und wenn die funktioniert, ist er zufrieden. Kaum ein Schriftsteller arbeitet mit einer Checkliste. Die findet man eher bei Drehbüchern zu Serien, denn die sollen ja schnell geschrieben werden und da greift man eben auf Bewährtes zurück. Ein echter Künstler kämpft immer um das Besondere.

D.h. also: nicht nach irgendwelchen speziellen künstlerischen Mitteln suchen, sondern erst die Aussage des Gedichtes ermitteln und dann überlegen: Wie ist es diesem Schriftsteller gelungen, sie besonders gut zu präsentieren. Und auch da sollte es im deutsch Unterricht weniger um irgendwelche Fachwörter gehen, sondern um die Phänomene, die genutzt werden.

Auf diesen Tipp kann man sich mal in einem Video genauer vorstellen lassen:

Videolink

Survival-Tipp Nr. 5: Dem Gedicht einen Sinn geben, es auf etwas anwenden

Natürlich kann man ein Gedicht auch analysieren – und das wird in der Regel auch der erste Schritt sein, weil man ja erst mal seine Signale erkennen und aufnehmen muss. Letzlich gilt aber für literarische Texte wie für alle anderen Kunstwerke auch: Kunst entsteht im Auge des Betrachters.

D.h.: die Beschäftigung damit wird erst richtig interessant, wenn man die Aussagen des Gedichtes und auch vielleicht seine Darstellung auf etwas anderes bezieht. Das kann zum Beispiel die Epoche sein, also die literarische Mode, die in bestimmten Zeiten geherrscht hat. Bei einem Gegenwartsgedicht kann man sich zum Beispiel fragen, inwieweit zeigt sich dort das Denken und Fühlen der so genannten Postmoderne?

Oder aber man fragt sich: Warum schreibt ein Autor mal ganz anders, als man es sonst von ihm gewohnt ist.

Am spannendsten (vor allem in der Schule) ist aber natürlich die Frage: Was hat das Gedicht mit mir/uns zu tun. Kann man seine Aussage akzeptieren oder möchte man sie infragestellen. Und dann ist man bald im kreativen Bereich und schreibt zum Beispiel ein Gegengedicht.

auch diesen Schritt kann man sich praktisch mal vorstellen lassen:

Videolink

Weiterführende Hinweise