Worum es hier geht:
Peter Bichsel, „Die Tochter“ – Anregungen für den Unterricht
Kurz-Infos zum Inhalt, zur Bedeutung und zum kreativen Umgang mit Bichsels Kurzgeschichte „Die Tochter“ . In ihr geht es um das nicht gelingende Familienleben im Übergangsfeld des langsamen Auszugs von Zuhause.
Kurz-Info zu Thema und Inhalt
Die stille Entfremdung zwischen einem älteren Ehepaar und seiner Tochter
Inhaltsangabe:
In der Geschichte geht es um ein wohl älteres Ehepaar, das jeden Abend auf die auswärts arbeitende Tochter mit dem Abendessen wartet. Die Zeit wird gefüllt mit dem Versuch, sich vorzustellen, wie die Tochter als „Bürofräulein“ in einer Großstadt arbeitet, deutlich wird, dass das für die Eltern eine fremde Welt ist, mit der sie nicht ganz mithalten können. Interessant ist, dass die Tochter zwar viele Erwartungen der Eltern erfüllt, was das äußere Erscheinungsbild angeht, aber erstaunlicherweise weder erzählen kann, was sie eigentlich in der Stadt so macht, noch etwas in der angeblich von ihr beherrschten französischen Sprache zu bieten hat. Über allem hängt schon die Ahnung der weiteren Entwicklung, die die Tochter ganz aus dem Elternhaus herausführen wird. Angedeutet wird, dass dann diese abendliche Warte-Hängepartie beendet wäre und der Vater zum Beispiel wieder in Ruhe die Zeitung lesen könnte.
Die Geschichte endet damit, dass die Mutter den Zug gehört hat und jetzt wahrscheinlich wieder ein gemeinsamer Abend so abläuft wie immer.
Bedeutung der Geschichte: -> Was zeigt die Geschichte?
1. Die Geschichte zeigt zunächst einmal die Fokussierung der Eltern auf ihre Tochter. Sie haben offensichtlich wenig eigenes Leben und sind deshalb ganz begierig darauf, am Leben ihrer Tochter zumindest im Sinne des Erzählens teilzuhaben.
2. Erstaunlich ist, dass die Tochter zwar ein Stück äußeren Aufstieg geschafft zu haben scheint, dass ein innerer Zuwachs an Überblick und Kommunikationsfähigkeit nicht eingetreten ist.
3. So hat man als Leser am Ende den Eindruck, dass der endgültige Wegzug der Tochter ein irgendwie nicht richtig laufendes Zusammenleben beenden würde – mit der Chance für die Eltern, nun wenigstens ihr beschränktes Leben wieder voll und ganz aufnehmen zu können.
Interessant könnte ein Vergleich mit der Kurzgeschichte „Mittagspause“ von Wolf Wondratschek sein.
https://textaussage.de/wolf-wondratschek-mittagspause-anregungen-fuer-schule-und-unterricht
Anmerkungen zum Schaubild:
1. Die Basis ist eine Zeitachse, bei der links die Welt der Eltern angeordnet ist, die vor allem durch Verzicht, Warten und das Sich-begnügen-Müssen-mit-Vorstellungen sowie Erinnerungen und schwachen Vergleichen geprägt ist.
2. Dem gegenüber steht die Doppel-Welt der Tochter, die über ihr eigentliches Leben in der Stadt und mit der Arbeit gar nichts sagen kann oder will und nur scheinbar bedeutsame Accessoires zu Hause präsentiert.
3. Dann gibt es die Ebene der Zukunft, die im Hinblick auf die Eltern im Text selbst als Befreiung, d.h. Rückkehr zu einem selbstbestimmten Leben gesehen wird. Aber auch für die Tochter könnte mit Heirat und Auszug endlich ein unbefriedigender Schwebezustand beendet werden.
4. Letztlich kann die Frage diskutiert werden, ob hier nicht ein falsches, unechtes Familienleben aufrecht erhalten wird.
Inwiefern und inwieweit handelt es sich um eine Kurzgeschichte?.
Es handelt sich um eine klassische Kurzgeschichte mit einem direkten Einstieg, einem relativ offenen Ende und einem bedeutsamen „Ausriss“ aus dem Leben dieser Familie und besonders der Eltern, aus deren Perspektive alles erzählt wird. Im wesentlichen bekommt man einen guten Einblick in die Eigenart und das Zusammenleben der drei Personen und auch schon einen Ausblick auf das, was danach wohl kommen wird.
Anmerkungen zum Einsatz als Klassenarbeit.
Die Geschichte ist sehr gut einsetzbar. Spannend wird eine Beurteilung des Verhältnisses von Eltern und Tochter – etwa im Hinblick auf die Frage, ob es nicht besser für alle Beteiligten gewesen wäre, wenn die Tochter nicht nur einen Job weiter draußen angenommen hätte, sondern auch gleich ganz umgezogen wäre. Vielleicht hätte sie ja beim Jahresbesuch zu Weihnachten etwas zu „sagen“ gewusst.
Ideen zum Einsatz im Unterricht
Die Geschichte wirkt für heutige Schüler möglicherweise etwas fremdartig, weil sie sich Eltern gar nicht mehr vorstellen können, deren Horizont so eng ist wie in diesem Falle.
Da bietet sich sich eine Modernisierung an – nachdem der Kern des Problems erkannt worden ist, nämlich mangelnde Kommunikationsfähigkeit von seiten der Tochter und ein sich daraus ergebender Überschuss an Fantasie bei den Eltern.
Man könnte auch der Frage nachgehen, ob beim Umgang mit einer offensichtlich kommunikativ überforderten Tochter nicht Weniger an Anteilnahme und Rücksichtnahme mehr wäre.
Nur der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass es pädagogisch ganz wertvoll sein könnte, in der Modernisierung die Tochter durch einen Sohn zu ersetzen. Denn gerade ein gewisses Maß an Sprachlosigkeit wird ja als Gefahr in landläufigen Vorurteilen eher dem männlichen Geschlecht zugeschrieben.
Eine komplette Interpretation der Kurzgeschichte
gibt es hier.
Kleine Anregung:
Eine andere Variante des Ablöseprozesses wird in der folgenden Kurzgeschichte präsentiert.
- Fritz, Walter Helmut, „Augenblicke“
- Eine 20jährige junge Frau, die schon berufstätig ist, aber noch bei ihrer Mutter lebt, leidet unter deren als Zudringlichkeit empfundenes Bemühen um ein Gespräch, um Nähe.
- Ausführlich wird die verklemmte Situation geschildert, wenn die beiden sich im Badezimmer treffen.
- Schließlich flieht die Tochter, will sich eine eigene Wohnung besorgen, was vorläufig scheitert.
- Nach ihrer Rückkehr schläft die Mutter schon und die Tochter ist mit ihrem Stress allein – einem gewissen Mitgefühl mit der alten und oft kranken, zudem verwitweten Mutter und ihrem eigenen Freiheitsdrang.
- Damit ergeben sich kontroverse Gesprächsmöglichkeiten im Unterricht.