Piet van Anders, „Das Positive im Roman ‚Tauben im Gras'“ (Mat5997)

Worum es hier geht:

Wir präsentieren hier das „Aufstöhner“ eines Lesers von „Tauben im Gras“, der Koeppens Roman nicht entnervt beiseitegelegt hat angesichts des Übermaßes der Dunkelfärbung einer Epoche. Vielmehr ist er auf die Suche gegangen nach den kleinen Momenten, wo sich auch bei diesem Schriftsteller die heimlich-kreative Seite des „Selbstoffenbarungscharakters“ auch des Schreibens zeigt.

  • Es geht um die These, dass der Roman nichts anderes ist als ein großer Zornesausbruch, der durchaus den Mister Hyde-Anfällen der Emilia entspricht.
  • Aber dahinter steckt wie immer auch das Gefühl eines Defizits und damit zumindest implizit auch die Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben, wie es sich bei Washington Price zeigt.
  • Das Besondere ist nun, dass sich feststellen lässt, dass dieser positive Ansatz an einigen Stellen auch explizit wird, also positiv durchscheint. Und plötzlich sieht man dann zwischen all den herumirrenden Tauben auch die eine oder andere Schwalbe, die zwar noch keinen Sommer „macht“, aber ihn ahnen lässt.

Der Text

Hier zunächst der Text – einfach aus der PDF-Datei herausgezogen, aber gut für eine Übersicht

Piet van Anders,

Wolfgang Koeppen oder: Wenn „Tauben“ aus Versehen zu „Schwalben“ werden

Wer die ersten zwei Seiten aus Koeppens Roman „Tauben im Gras“ liest, ist zunächst einmal fasziniert von der
additiven Dichte der Beschreibungen und Reflexionen. Je weiter man sich dann einlässt auf die Beschreibung einer
spezifischen Nachkriegssituation, die nichts anderes zu sein scheint als ein Atemholen vor den nächsten
Bombardements, desto mehr fragt man sich: Wie kann eine Brille nur so dunkelgetönt sein? Natürlich kann ein
Schriftsteller nicht umhin, mit seinen Mitteln klarzumachen, dass schon wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten
Weltkrieges ein zumindest „Kalter Krieg“ ausgebrochen war, der 1950 in Korea dann erstmals zu einem heißen wurde,
nachdem die Konfrontation um Berlin 1948/1949 noch unblutig gehalten werden konnte.

Natürlich hat Koeppen auch Recht, wenn er beschreibt, wie stark noch die Zeit des Nationalsozialismus nachwirkte, wie
10 sehr man nicht alles, was heldenhaft gewesen zu sein schien, jetzt in den Mülleimer der Geschichte werfen mochte.
Aber dann legt er erst mal richtig los, indem er den großen Rahmen herunterbricht auf Einzelschicksale: Da wird dann
gleich die kaputte Scheinwelt eines Filmschauspielers ausgeleuchtet, der natürlich keine Zeit hat für seine Tochter, die
dafür den extremsten Ausläufern einer kirchlichen Schuldzuweisungsneurose mit ständig vorhandenem Blick auf Hölle
und Fegefeuer ausgesetzt ist. Es folgt ein Schriftsteller, der sich aus „Verzweiflung“ der „Sünde“ hingibt, sprich: seine
randalierende Ehefrau verlässt, die ihr gesamtes Wohlstandsumfeld durch den Krieg verloren hat und jetzt hofft, von
den Geistesblitzen ihres Mannes zu profitieren. Ein zweites Beispiel für den Umgang mit verlorenem Besitz ist Frau
Behrend. Sie fragt sich in schon sehr gelungener ungewollter Selbstironisierung im Hinblick auf die Sieger über das
aggressivste Deutschland aller Zeiten: „Konnten sie uns nicht in Frieden lassen?“ Und so geht es weiter – und man fragt
sich zunehmend: Sind eigentlich alle Menschen nur schlecht – und Differenzierungen ergeben sich nur in der
Schwarzfärbung? Es gibt ja den Selbstoffenbarungscharakter der Sprache – und der gilt natürlich grundsätzlich auch für
die Literatur – bei aller Achtung vor dem Vorbehalt des Fiktiven. Aber allein schon die Tatsache, dass man Lust hat, nur
über traurig-komische Gestalten zu schreiben, sagt doch auch einiges aus über ihren Erfinder.

Aber es gibt durchaus auch das Positive: Da ist dieser farbige Besatzungssoldat Washington Price, der um seine
Beziehung zu der Tochter von Frau Behrend kämpft, als das noch ungeborene Mischlingskind eine einfache
gemeinsame Zukunft radikal in Frage stellt. Beide lösen sich von Hoffnungen auf ein Leben im Wohlstandsland USA
und leben für die Idee der Gestaltung eines Ortes in Paris, an dem jeder willkommen ist. Bezeichnend für Koeppen ist
dann aber, dass sie am Ende Opfer einer gewaltsamen Auseinandersetzung werden und es unklar bleibt, ob sie ihren
Traum jemals werden verwirklichen können.

Dementsprechend endet auch der eine Tag des Romans „Tauben im Gras“. Alles scheint sinnlos gewesen zu sein, das
ganze Herumgeirre auf der Wiese des Lebens als Vorstufe zu einem neuen „verdammten Schlachtfeld“. Aber es gibt
einen kleinen Hoffnungsschimmer in der Feststellung des Erzählers kurz vor Schluss: „die Zeit ist kostbar“. Man hat
den Eindruck, dass die kleinen positiven Lebenszeichen des Romans dem Erzähler und indirekt auch dem Autor nur so
rausgerutscht sind, ihm gewissermaßen bei der Rasend-Tour durch 1000 traurige Schicksale „unterlaufen“ sind.
Dafür spricht eine andere kleine Schlüsselstelle. Sie findet sich in der seltsamen Episode, wo Emilia, die extrem
35 stimmungsabhängige Frau Philipps, plötzlich Gefühle zeigt für die junge Amerikanerin Kaye und ihr sogar eine Kette
schenkt, deren Erlös sie selbst gut gebrauchen könnte. Zwar bereut sie das kurze Zeit später schon wieder und hasst
sogar die Beschenkte. Aber zumindest kurzzeitig gilt: „Ein unerhörtes Gefühl von Glück durchströmte Emilia. Sie war
frei.“ Zusammen mit Kaye sogar hat sie „die herrliche Empfindung zu rebellieren, sie fühlten das wunderbare Glück,
gegen Vernunft und Sitte zu rebellieren.“ Und am Ende kommt es sogar zu einer Begegnung, die in den 50er Jahren
noch sehr ungewöhnlich war: „Sie umarmte Kay, sie küßte Kay, und als sie Kays Lippen berührte, dachte sie >herrlich,
so schmeckt die Prärie< -„.

Natürlich haben wir mit Absicht hier die kleine, aber entscheidende Textstelle ausgelassen, denn komplett lautet das
Zitat: „Ein unerhörtes Gefühl von Glück durchströmte Emilia. Sie war frei. Das Glück würde nicht währen, aber für den
Augenblick war sie frei.“

Das ist möglicherweise der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Romans „Tauben im Gras“: Mit schon fast
neurotischer Fixierung stößt Koeppen seine Leser auf ihre Existenz als Zufallsbewohner einer Wiese, ohne Sinnkontext
und ständig bedroht von über sie herfallendem Unheil. Aber er ist anscheinend doch nicht so einäugig, als dass nicht hin
und wieder zumindest im Augenwinkel auch einzelne Schwalben auftauchen, die zwar noch keinen Sommer „machen“,
ihn wohl aber ahnen lassen. Nehmen wir also Koeppens Roman als einen Ausbruch des Zorns, wie er die Hyde-Phasen
der Emilia kennzeichnet, im Bewusstsein, dass auch für Schriftsteller häufig die Erkenntnis der Medienpsycholoogie
gilt: „Only bad news are good news“. Die Frage ist nur, ob das, was die Kritiker erfreut, auch das Beste für junge
Menschen ist, die sich im Rahmen zum Beispiel des Zentralabiturs mit „Tauben im Gras“ beschäftigen müssen. Aber
vielleicht ist die Festlegung ja mit dem Hintergedanken verbunden, dass Jugend schon immer „gegen den Strich“
gelernt hat und belohnt wird, wenn sie vielleicht einen Koeppen entdeckt, der nur „aus Versehen“ in der Lage war, dem
Leben auch ein bisschen Farbe, Licht und Hoffnung zu gönnen.

entnommen: Durchblicke bis auf Widerruf. Online-Zeitschrift für Schule und Studium, Ausgabe 1/2014
http://www.schnell-durchblicken.de/durchblicke-bis-auf-widerruf/

Die PDF-Druckvorlage

Mat5997 Piet van Anders das Positive im Roman Tauben im Gras

Weitere Infos, Tipps und Materialien