Plädoyer für „gelenktes Spielen“ im Deutschunterricht (Mat6137)

Worum es hier geht:

  • Dieser Text ermutigt zu einem etwas anderen Umgang mit Gedichten.
    • Nicht gleich Analysediktat unter der drohenden Guillotine der notwendigen „richtigen“ Lösung.
    • Stattdessen lieber ein Sich-Einlassen auf den Text, eine Art Gespräch.
    • Allerdings auf eins,
      • das zum einen den Text ernstnimmt
      • und zum anderen auf Verständigung mit anderen Lesern ausgerichtet ist.
    • Ziel ist also ein doppeltes Gespräch
      • zum einen mit dem Text, in diesem Falle mit dem Gedicht. Was sagt es aus? Welche Zielrichtung ergibt sich?
      • Zum anderen mit anderen Lesern des Textes, um mit ihnen zusammen zu einem tieferen Verständnis des Textes zu kommen.

Lars Krüsand

Plädoyer für geregeltes Spielen im Deutschunterricht

  1. Warum nur gibt es so viele schöne Gedichte und so viele Schüler, die im Deutschunterricht aufstöhnen, wenn sie mit einem Text in Versform konfrontiert werden.
  2. Wenn man nachfragt, hört man schnell: “Gedichte versteht man nicht.” Oder aber es heißt: “Wir müssen da irgendwas hineininterpretieren. Und wenn wir das dann tun, heißt es, steht nicht im Text.”
  3. Vielleicht sollte man so etwas wie “geregeltes Spielen” im Umgang mit Literatur einführen. Denn was ist die denn selbst anderes als ein Spiel über die Grenzen der Realität hinaus.
  4. Und wenn der Dichter herumspielen darf – warum denn nicht auch der Schüler, der sich mit dem Ergebnis beschäftigen soll.
  5. Es gibt nur eins, das beachtet werden muss: Spielen und vor allem gemeinsames Spielen macht nur Spaß, wenn alle sich an bestimmte Spielregeln halten.
  6. Wir formulieren hier einfach mal probeweise zwei, die vielleicht ausreichen:
    1. Wenn der Dichter Klarheit will, muss er auch klar schreiben. Je unklarer er wird, desto größer werden die Spielräume des Schülers.
    2. Der Schüler muss dann nur noch prüfen, wieviel vorgegeben ist durch den Text – und da wo der Text Lücken aufweist oder unklar wird, braucht er diese nur zu benennen und darf dann versuchen, soviel an eigenen Ideen hineinzugeben, wie es nötig ist, um wieder Klarheit zu schaffen.
  7. Dieses Verfahren ist übrigens eins, das wir im Alltag ständig anwenden:
    Da springt plötzlich ein Schüler mitten im Unterricht auf und verlässt, ohne was zu sagen, den Klassenraum.
    Dafür kann es viele Gründe geben.
    Als erstes wird vermutet, dass ihm schlecht geworden ist – das entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung – und wenn sich dann herausstellt, dass er einem Mitschüler morgens schon erzählt hat, dass er wohl was Falsches gegessen hat, herrscht relative Klarheit – und man muss dann nur noch jemanden hinterherschicken, um nach ihm zu schauen.
  8. Damit hätten wir genau die zwei Bereiche, die man gerade bei Gedichten einsetzen muss – allgemeine Lebenserfahrung und möglichst hohe Übereinstimmung mit dem Rest des Textes.
  9. Das Problem ist nur, dass nicht jeder Schüler über gleiche oder auch nur ausreichende Lebenserfahrung verfügt, um an der entscheidenden Stelle auf eine brauchbare Idee zu kommen.
    Wir wollen das mal an einem Gedicht von Trakl zeigen, an dem wir uns fast die Zähne ausgebissen hätten:

    1. Da heißt es am Anfang im Hinblick auf eine Winternacht.
      “Es ist Schnee gefallen. Nach Mitternacht verlässt du betrunken von purpurnem Wein den dunklen Bezirk der Menschen, die rote Flamme ihres Herdes. O die Finsternis!”
    2. Anschließend erfährt das Lyrische Ich Kälte, versteinert auch selbst ein bisschen und
    3. versinkt immer mehr in seltsame Träume und
    4. schließlich auch in einen tiefen Schlaf, aus dem er dann irgendwie froh erwacht.
    5. aus dem es seltsamerweise am nächsten Morgen ganz froh erwacht.
  10. Ein Alptraum für Schüler, die schon mitten im Gedicht durch rote Wölfe erschreckt werden, die von Engeln gewürgt werden.
  11. Und jetzt auch noch ein Schlaf in eisiger Winternacht, aus dem das Lyrische Ich froh erwacht.
  12. Unsere Rettung war dann die Erinnerung an die Reste früher Zivilisationen im heutigen Irak, von denen es nur noch Schutthügel gibt.
  13. Und so verstanden wir dann den “steinernen Hügel”, der ebenfalls im Gedicht auftauchte, einfach als Metapher für eine Siedlung, die unseren trunkenen Helden aus Kälte und Halluzinationen rettet.
  14. Und das Schöne war, dass er vorher schon von einem Wächter in einer hölzernen Hütte träumte, der da ebenfalls eingeschlafen war, was zur Nachahmung einlud – aber eben erst zu Hause oder sonstwie in einer steinernen Behausung mit Ofen.
  15. Und so haben wir das auch einfach so “hineininterpretiert” in dieses Loch, das Trakl uns da vor die Füße gelegt hatte. Das war unser Spiel – aber dazu gehörte eben auch, dass wir erstens feststellten, dass keine andere Lösung im Text näher lag und zweitens, dass das gesamte Gedicht durchaus “Sinn machte”, wenn man von dieser Hypothese ausging.
  16. Später fiel uns dann – selbst fast in seligem Schlaf nach totaler Erschöpfung ein, dass der großte Bertolt Brecht ja schon mal einen Araber hat ein Kamel schenken lassen, damit ein scheinbar unauflösliches Zahlenrätsel sich auflösen konnte – und das Schönste: Am Ende bekam der Araber sogar sein Kamel zurück, weil es übrig blieb bei der Verteilung – und alle waren glücklich.
  17. Also: Liebe Deutschlehrkräfte: Ermutigt eure Schüler zum Rumspielen mit literarischen Texten – mit nur einer einzigen Regel, man sucht nach der besten Erklärung für das, was da in Wörtern und Sätzen abgeht. Und wenn es mal eine noch bessere Lösung geben sollte, dann tröstet man den mit der weniger guten Lösung, dass der Umgang mit Literatur kein Fußballspiel ist, bei dem es nur einen Sieger geben kann, sondern dass gilt, was Sartre etwa so formuliert hat: “Lesen ist gelenktes Schaffen” – und wir sagen: Bis zu einem bestimmten Punkt lenkt der Dichter – und dann kommt der Leser “ins Spiel”. Entscheidend ist nicht ein richtiges Ergebnis, sondern dass es nachvollziehbar und möglichst überzeugend ist. Das ist die einzige Regel im Spiel.
  18. Und wenn in diesem Sinne mehr mit Literatur auch im Deutschunterricht gespielt wird, dann gibt es vielleicht auch mehr Schüler, die sich auch nach vielen Jahren Deutschunterricht immer noch über Gedichte freuen können.

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