Schnell durchblicken: Aussagen / Intention von Texten – mit Schaubild (Mat8122)

Worum es hier geht:

  1. Aus dem Deutschunterricht früherer Jahre kennt man noch die Frage: „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Diese Frage war nicht nur bei Schülern verhasst, sondern sie wurde aus guten Gründen auch von Fachleuten in die unterste Kiste der Beschäftigung mit Literatur verwiesen.
  2. Natürlich gibt es das, dass ein Schriftsteller erst die Idee hat, was er zeigen möchte, und dann erst losschreibt. Allerdings würde das ein ziemlich „kalter“, mechanischer Text, bei dem nur eine Idee abgearbeitet wird. Das Schreiben von Literatur ist doch eigentlich ein äußerst kreativer, spielerischer Prozess, bei dem sich beim Schreiben auch die Ausgangsidee ändert.
  3. Das kann soweit gehen, dass dem Schriftsteller gar nicht bewusst ist, dass das, was er schreibt, eine andere Aussage entwickelt, als er sich eigentlich vorgenommen hatte. Man kennt das aus der Kommunikationstheorie, wo es den sog. „Selbstoffenbarungscharakter“ von Sprache gibt.  Gefährlich wird das zum Beispiel bei einem Einstellungsgespräch, in dem man über seinen alten Arbeitgeber herzieht und vielleicht sogar Geheimnisse aus seiner Firma weitergibt. Man selbst denkt, das sei ein besonderer Vertrauensbeweis, eine Art Vorleistung für den neuen Chef – dieser aber stellt sich schon vor, was dieser Arbeitnehmer später über ihn erzählen würde.
  4. Zurück zur Literatur: Jeder Text entwickelt also mehr oder weniger stark ein Eigenleben, mit einer Zielrichtung. Die ergibt sich aus den Signalen des Textes und nicht aus dem Willen des Autors.
  5. Nehmen wir ein Beispiel und zwar den Anfang der Novelle „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist. Da heißt es:
    „An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“

Ganz gleich, was Kleist sich als Autor vorgenommen hatte: Der Text macht für alle Ewigkeit deutlich, dass es um einen Mann geht,

  • dessen Leben sehr widersprüchlich verläuft, was Moral und Gesetzestreue angeht.
  • Dabei wird deutlich zwischen zwei Phasen unterschieden.
  • Außerdem nennt der Text bereits die Ursache, den Grund für die große Veränderung, nämlich das ‚Ausschweifen‘ bei einer Tugend – und zwar bei der des ‚Rechtgefühls‘.

Was die Leser ganz unterschiedlicher Zeiten dann damit anfangen, ist nicht mehr die Frage der gewissermaßen mit dem Textwortlauf in Stein gegrabenen Intentionalität, sondern eine Frage des Sinns, den jede Zeit den Texten neu geben kann und vielleicht auch muss (siehe das Stichwort „Sinnpotenzial“)

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