Worum es hier geht:
Das „Sonett Nr. 19“ ist ein gutes Beispiel für den maximalen Anspruch in einer Beziehungssituation. Es fällt einem dieser adlige Ferdinand ein in Schillers „Kabale und Liebe“, der seiner angeblich geliebten Luise vorschreibt, wie sie zu denken und zu fühlen hat – immer mit maximalem Ausschließlichkeitsanspruch dem Partner gegenüber. Am Ende vergiftet Ferdinand Luise sogar, weil er dafür die beste Lösung für sie beide hält.
Aber schauen wir uns das Gedicht erst mal genauer an.
Thema:
Das Gedicht beschäftigt sich mit der Frage, welche Ansprüche jemand in der Liebe stellen darf, in maximal fordernder Weise. Das lyrische Ich ist zwar bereit, aus seiner Sicht alles Notwendige für das Gegenüber zu tun. Nach dessen Bedürfnissen wird aber überhaupt nicht gefragt, ja ein entscheidendes wird sogar ausgeschlossen.
Erläuterung von Strophe 1
Das lyrische Ich macht gegenüber seinem Partner deutlich, dass es alles in Kauf nimmt: Hauptsache, „dass du mich nicht fliehst“.
Hier wird also größtmögliche Abhängigkeit deutlich.
Erläuterung von Strophe 2
In der 2. Strophe dann noch mal ein Nachtrag mit dem größtmöglichen Angebot bei Blindheit.
Dann der Hinweis auf die Bedeutung, die das Gegenüber für das lyrische Ich hat, es ist seine „Wacht“, also beschützt es sie. Offensichtlich wird auch von einem gemeinsamen Weg ausgegangen, der „noch nicht halb verbracht“ ist.
Warnend wird auf das „Dunkel“ hingewiesen, in dem man gemeinsam stehe. Gemeint ist wohl, dass man es gemeinsam besser bewältigen kann.
Erläuterung von Strophe 3
In der 3. Strophe wird der Ton dann schärfer. Bezeichnend ist, dass nicht ganz klar ist, an wen die Forderungen im Befehlston gerichtet sind. Aber der „Dienst“ passt gut zu „Wacht“ und würde dann diese Dreistigkeiten dem Anderen zuordnen.
Erläuterung von Strophe 4
Am Ende dann die ultimative Einschnürung des Gegenübers: Es sei nicht frei, weil es gebraucht werde. Am Ende wird das „ich“ sogar dem „wir“ gleichgesetzt.
Deutlicher kann man einen „Absolutismus der Liebe“ (die möglicherweise nur ein einseitiges Gefühl bezeichnet, auf jeden Fall wenig bis kein Verständnis für die andere Seite) nicht formulieren.
Zusammenfassung der Aussagen des Gedichtes:
- Das Gedicht macht deutlich, dass das lyrische Ich alles tun will, damit das Gegenüber nicht die Flucht erreicht.
- Ständig ist von dem die Rede, was das lyrische Ich von der anderen Seite braucht.
- Zwar behauptet das lyrische Ich auch, dass es selbst viel für das Gegenüber tun will – aber auch das ist stark auf die eigenen Bedürfnisse bezogen (I,3u4)
- Am Ende dann schon eine unglaublich arrogante Ansammlung von Verboten bzw. Forderungen, bei denen am Ende das „wir“ mit dem eigenen „ich“ gleichgesetzt wird.
Zur Sonett-Form
Typisch für ein Sonett: Die Quartette präsentieren noch ein Mindestmaß an scheinbarer Ausgewogenheit.
Die Terzette stellen dann eine deutliche Verschärfung dar bis hin zur egoistischen Dreistigkeit.
Verweis auf ein anderes Brecht-Gedicht mit der gleichen Haltung
Brecht, „Entdeckung an einer jungen Frau“
Das lyrische Ich entdeckt beim Abschied nach einer Liebesnacht eine graue Haarsträhne bei der Geliebten als Zeichen der Vergänglichkeit. Das wird mit schonungsloser Brutalität auch geäußert, gefolgt von dem Vorschlag, die verbleibende Zeit möglichst mit endlosem Sex zu verbringen.
https://textaussage.de/brecht-entdeckung-an-einer-jungen-frau
Kritisch-kreative Antwort
- Angesichts der dreisten Ich-Bezogenheit des lyrischen Ichs, die wohl Parallelen zu Brechts Umgang mit Frauen aufweist (schönes Recherche-Thema)
- bleibt nur die Frage, welche Antwort man hier geben kann
- außer Unterwerfung.
- In einem Gegengedicht könnte man deutlich machen, was man auch in einem Brief schreiben könnte:
- Schön, dass du so viel für mich tun willst,
- aber das sind alles nur mögliche Fälle.
- Für meine aktuellen Bedürfnisse interessierst du dich gar nicht.
- Das aktuellste ist, jetzt genau das zu tun, was du mir nicht zugestehen willst, nämlich zu fliehen
- vor einem solchen Ausmaß an Ich-Bezogenheit.