Schnell durchblicken: Eichendorff, „Sehnsucht“ (Mat2990)

Eichendorff, „Sehnsucht“

Diese Seite stellt eines der bekanntesten Gedichte Joseph von Eichendorffs vor – es enthält den Inbegriff der Romantik, zeigt dabei zugleich deren schöpferisches und damit lebendiges Potenzial, aber auch die Grenzen einer etwas allgemein bleibenden Aufbruchsstimmung.

  • Zunächst der Text des Gedichtes
  • Die Form
  • Analyse des Inhalts der einzelnen Strophen
  • Intention
  •  Künstlerische Mittel
  • Sinnzuweisung und Stellungnahme

Sehnsucht

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab’ ich mir heimlich gedacht:
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.

Die Form

Es handelt sich um drei Strophen von jeweils 8 Verszeilen mit zwei Kreuzreim-Vierzeilern, das Versmaß wirkt sehr daktylisch und damit leicht und bewegt, fast tänzerisch.

Näher sind wir darauf auf der folgenden Seite eingegangen:
https://textaussage.de/eichendorff-sehnsucht-rhythmus

Analyse des Inhalts:

Erste Strophe:

Das Gedicht beginnt mit dem Blick des Betrachters zu den Sternen, die ihm „golden“ erscheinen, was hier wohl soviel heißen soll wie „schön“, auch wenn es etwas kitschig-einfach klingt. Nach dem großen Wurf des sehnsuchtsvollen Blicks der ersten Zeile geht es sofort zurück an den Ort des Betrachters: einsam an ein Fenster, aus dem herausgeschaut wird. Und es wird wieder in die Ferne geschweift – diesmal mit dem Ohr: es erklingt ein Posthorn. Augen und Ohren sind offen – und sie entfachen die Sehnsucht zur Reise. Das Herz, die Seele, entbrennt, was wohl das Verzehrende dieser Sehnsucht deutlich machen soll. Die Schlusszeile entspricht dem Anfang, wenn von einer „prächtigen Sommernacht“ die Rede ist. Damit hat man am Ende der ersten Strophe eine Situation, die im wesentlichen von einem schönen Rahmen, lockender Ferne und einem Betrachter bestimmt wird, der sich hinreißen lässt und in eine unbestimmte Sehnsucht verfällt.

Strophe 2

In dieser und der nächsten Strophe, und damit in dem Rest des Gedichtes, werden zwei Wandersleute beschrieben – weiterhin vom einsamen Betrachter, aber ohne sich und seine Gedanken nochmals direkt ins Gespräch zu bringen. Sie sind wie ein Resonanzboden zum Posthorn des Betrachters. Die wenigen Zeilen der ersten Strophen haben ein nachhaltiges Bild gezeichnet („geblasen“) vom Gemütszustand des Betrachters. Mit und in dem Gesang der Gesellen werden Gegensätze aufgezeigt: singen und stille Gegend; schwindelnd und sacht. Das zeigt Veränderungen – und die entbrannten das Herz in der ersten Strophe.

Die zweite Strophe entführt uns in die Waldesnacht und damit in eine typisch romantische Umgebung – und zur Romantik bei Eichendorf gehört auch das Singen. Was auffällt, ist ein gewisser Gegensatz von Ruhe und „Sachtheit“ und dem Sich-Stürzen der letzten Zeile. Man hat hier den Eindruck einer gewissen Spannung – diese romantische Welt scheint nicht frei von Abgründen zu sein.

Strophe 3

Die dritte – und schon letzte – Strophe präsentiert gewissermaßen einen zweiten romantischen Raum: Nach der Natur kommt jetzt das Altertum, wobei beides im Bild des Verwilderns zusammengeführt wird. Dazu kommt jetzt noch die Liebe, angedeutet im Hinweis auf die lauschenden Mädchen – sie warten auf die, die die Laute spielen, also Musik machen. Das erweckt den Eindruck von einem kommenden Fest – die Natur tritt in den Hintergrund. Doch die meldet sich sofort wieder: Verschlafen rauscht der Brunnen. Und die Schlusszeile der ersten Strophe „in der prächtigen Sommernacht“ beendet mit dem Wiederaufruf der letzten Zeile der ersten Strophe das gesamte Gedicht: Dieser Eindruck soll offensichtlich nach all den Einzelheiten bleiben: Sommer – Nacht und Pracht. Es ist eine Art Paradies auf Erden, das hier entwickelt und präsentiert wird.

Intention/Aussage des Gedichts

Das Gedicht präsentiert – ausgehend vom Titel – den Inbegriff des Romantischen, nämlich die Sehnsucht, wobei es sich dabei um zwei Dinge gleichzeitig handelt, einmal ein grundsätzliches Gestimmtsein – und zum anderen geht es natürlich auch um ganz bestimmte Objekte dieser romantischen Begierde.

Sehnsucht bedeutet, zwar noch bei sich und an seinem Ort sein, aber zugleich haben Impulse von Außen das Herz, also den innersten Kern des Menschen, in Bewegung gesetzt, ja sogar einen Brand entfacht – diese Bewegung ist letztlich ziellos, es geht um eine besondere Art von Fernweh, konzentriert im Wort „mitreisen“.

Zur grundsätzlichen Gestimmtheit kommen typisch romantische Vorstellungen von den Orten, an denen man gerne wäre (dabei handelt es sich aber um gedachte Orte, keine wirklich-konkreten Ziele): Zum einen ist das eine Natur, die zugleich wild und sanft ist, mit der man eins werden will. Zum anderen geht es um altehrwürdige Orte, an denen Geschichte und menschliches Streben zu Stein und zu Bildern geworden sind. Ein weiterer, allerdings nur angedeuteter Bereich ist der der Gemeinschaft und des Festes.

Künstlerische Mittel

Eichendorff nutzt „zentrale“ Motive:

  • der romantischen Fensterblick, der meist in die Ferne gerichtet ist
  • das Posthorn, das zur Reise bläst
  • die Gesellen, die sich unbeschwert die Natur erwandern
  • der Brunnen, der hier verschlafen rauscht und damit –wie andernorts-  „von alter Zeit erzählt“

Die letzte Strophe erinnert mit ihrem Marmorbild an das klassische Italien. Nach Theodor W. Adorno ist sie Goethes Lied „Kennst Du das Land, wo die Zitronen blühen“ nachempfunden. Auch für Eichendorff scheint Italien das große Reiseziel.

Sinnzuweisung und Stellungnahme

Das Gedicht drückt Sehnsucht nach Veränderung aus und damit zugleich nach dem, was Leben grundsätzlich ist oder auch sein sollte, ja, was es ausmacht. Wer zufrieden ist mit dem, was er hat, nicht mehr die Anregungen von außen aufnimmt und bereit ist, sich aus dem Kreis des Bekannten und Gewohnten wegzubewegen, hat eigentlich schon aufgehört zu leben.

Neben diesem sehr positiven Ansatz gibt es aber auch kritische Punkte: Dieses Gedicht drückt auf wunderschöne, spielerisch-tänzerische (daktylische Grundstimmung) Art und Weise ein Grundgefühl des Menschen aus, aber es bleibt auch sehr unbestimmt, allgemein. Der ganze Bereich der wirklichen menschlichen Probleme und Aufgaben ist ausgeblendet, ja es geht gerade um ein fast schon schwärmerisches Einswerden mit Natur, Geschichte und Gemeinschaft. Für mich sind das aber durchaus legitime Orte, an denen man sich jenseits des täglichen Alltagskampfes auf die schönen Möglichkeiten des Menschseins besinnt, von ihnen zumindest träumt – und wer nicht träumen kann, der ist kein Realist, hat einmal ein großer Staatsmann (Ben Gurion) gesagt.

Siehe hierzu auch das entsprechende Gedicht von Ludwig Tieck:

Hinweise dazu und zum Vergleich finden sich auf der Seite:

https://www.schnell-durchblicken2.de/unt-tieck-sehnsucht

Weitere Infos, Tipps und Materialien 

https://textaussage.de/weitere-infos