Worum es hier geht:
Auf dieser Seite zeigen wir, wie man sich nach und nach an das expressionistische Gedicht „Der Aufbruch“ von Ernst Stadler „herantastet“. Ziel ist es, einen sicheren Weg zu einer guten Interpretation zu finden. Das Besondere an diesem Gedicht ist der fließende Übergang zwischen Vorstellung und Realität – hier kann man leicht in die Irre gehen.
Grafische Bearbeitung des Gedichtes auf einem Arbeitsblatt
Erläuterung der einzelnen Textsignale
Wir verwenden hier die Fassung, die sich z.B. hier findet:
Ernst Stadler
Der Aufbruch
- [Wichtig ist, so eine Überschrift als ersten Hinweis auf Inhalt und Aussage des Gedichtes zu verwenden! In diesem Falle geht es also offensichtlich um eine Veränderung, bei der man sich auf den Weg macht. Zum Ziel wird nichts gesagt.]
1914
- [Diese Jahreszahl ist Teil des Gedichtes – man hat dann gleich den Beginn des Ersten Weltkrieges im Kopf]
Zeilen 1-8
Einmal schon haben Fanfaren
mein ungeduldiges Herz blutig gerissen,
Dass es, aufsteigend wie ein Pferd,
sich wütend ins Gezäum verbissen.
Damals schlug Tambourmarsch
den Sturm auf allen Wegen,
Und herrlichste Musik der Erde
hieß uns Kugelregen.
- [Das Gedicht beginnt mit einem Rückblick. Dabei spielen Fanfaren eine Rolle, also eine meist von Blasinstrumenten verbreitete Tonfolge, die häufig militärische Signale enthielt.
- Diesen Aufbruchsignalen steht ein „ungeduldiges Herz“ gegenüber, das voller Erwartung ist, sogar als „blutig gerissen“ bezeichnet wird. Es kommt vor Freude richtig durcheinander – und in der dritten und vierten Zeile wird dann ganz klar, dass es in den Krieg geht.]
Zeilen 9-16
Dann, plötzlich, stand Leben stille.
Wege führten zwischen alten Bäumen.
Gemächer lockten.
Es war süß, zu weilen und sich versäumen,
Von Wirklichkeit den Leib
so wie von staubiger Rüstung zu entketten,
Wollüstig sich in Daunen
weicher Traumstunden einzubetten.
- [Dann gibt es eine große Unterbrechung, das Leben steht „stille“. Offensichtlich geht es nicht gleich oder gar nicht wirklich in den Kampf, man kann sich noch der Ruhe hingeben, fantasiert sich aber schon in eine „staubige Rüstung“ hinein, die es ablegen kann.
- Man kann das aber auch im übertragenen Sinne verstehen: Die normale ‚Wirklichkeit tritt zurück, ja man kann sich sogar von ihr „entketten“, also befreien. Empfunden wird das als Genuss.]
Zeilen 17-27
Aber eines Morgens
rollte durch Nebelluft das Echo von Signalen,
Hart, scharf, wie Schwerthieb pfeifend. Es war
wie wenn im Dunkel plötzlich Lichter aufstrahlen.
Es war wie wenn durch Biwakfrühe
Trompetenstöße klirren,
Die Schlafenden aufspringen und die Zelte abschlagen
und die Pferde schirren.
Ich war in Reihen eingeschient,
die in den Morgen stießen, Feuer über Helm und Bügel,
Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht,
mit vorgehaltnem Zügel.
- [Dann scheint es endlich in den ersehnten Kampf zu gehen. Plötzlich wird alles „hart“ und „scharf“ – das lyrisch Ich hat das Gefühl, dass „plötzlich Lichter aufstrahlen“. Es fühlt sich jetzt nicht nur „entkettet“, sondern auch im Licht großer Ereignisse.
- Aber man muss aufpassen: Die Schlüsselstelle des Gedichtes ist: „Es war wie wenn …“
Man übersieht diesen Vergleich leicht, weil er nicht ganz klar durchgehalten wird. Spätestens bei: „Ich war in Reihen eingeschient“ tut das lyrische Ich so, als wäre es Wirklichkeit.]
Zeilen 29-36
Vielleicht würden uns
am Abend Siegesmärsche umstreichen,
Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt
unter Leichen.
Aber vor dem Erraffen
und vor dem Versinken
Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt
und glühend trinken.
- [Am Ende wird die Kampf-Fantasie fortgesetzt.
- Sowohl Sieg und Ruhm sind möglich wie auch Tod.
- Wichtig ist dem Lyrischen Ich, dass es – unabhängig vom Ausgang – im Kampf „Welt und Sonne satt und glühend“ aufgenommen hat.]
Aussagen des Gedichtes (Intentionalität)
- Wenn man ein bisschen was weiß über die Gefühle vieler Deutscher zu Beginn des Ersten Weltkrieges – gerade auch bei der Jugend, dann drückt dieses Gedicht ganz entscheidende Dinge aus:
- Man ist unzufrieden mit der Langeweile normalen Lebens.
- Man sehnt sich nach Herausforderung – auch in einem kriegerischen Kampf.
- Die Wirklichkeit sieht aber anders aus – man genießt eher noch den Frieden, träumt sich nur in irgendwelche Abenteuer hinein.
- Am Ende geht das lyrische Ich so weit, nur an eine existenzielle Erfahrung, zu denken, unabhängig von Sieg, Niederlage, Ruhm oder Tod.
- Aus heutiger Sicht ist das schwer nachvollziehbar – auch die jungen Menschen von 1914 lernten bald anders über den Krieg zu denken, wenn sie nass im Erdgraben lagen – stundenlangen Bombardierungen durch die Artillerie ausgesetzt – neben sich verschüttete oder schwer verletzte Kameraden, die nur noch sterben wollten.
- Das Gedicht zeigt gewissermaßen die zweite, extreme Seite der Jugendbewegung um 1900 – wo es nicht mehr nur darum ging, mit der Gitarre wandernd zum nächsten Zeltlager zu ziehen, sondern bereit war, sein Leben „in die Schanze zu schlagen“, also auch in die möglicherweise tödliche Schlacht zu ziehen.
Hinweis auf den kulturhistorischen Kontext
Berühmt geworden ist Ernst Jüngers Vorstellung vom „Stahlgewitter“. Bei Wikipedia findet sich der beziehungsreiche und hier gut passende Hinweis:
„Fernab jeder politischen oder moralischen Parteinahme wird der Krieg bei Jünger zum inneren Erlebnis und zu einer das Bewusstsein des Mitwirkenden schärfenden Erfahrung, die den Verfasser zur Erkenntnis der Bedeutung der Tatkraft des Einzelnen im Überlebenskampf führt.„
https://de.wikipedia.org/wiki/In_Stahlgewittern
Was kann man mit einem solchen Gedicht „anfangen“?
- Für diejenigen, denen diese „Aufbruch“-Welt Stadlers zu abseitig und unverständlich vorkommt, die mögen einfach mal darüber nachdenken, welche „Aufbruch“- Möglichkeiten es auch heute noch gibt.
- Zunächst wäre dann zu klären, was denn das Besondere dieses „Aufbruchs“ ist, nämlich der Ausbruch aus einer als langweilig empfundenen Normalwelt.
- Dann die Bereitschaft, viel oder gar alles zu riskieren.
- Spontan fallen einem Rennfahrer ein – oder Testpiloten – vielleicht auch Apnoe-Taucher, die immer tiefer mit normaler Lungenluft tauchen. Möglicherweise kann jemand auch Leute hier einbeziehen, die an illegalen Straßenrennen teilnehmen. Es geht hier nicht um moralische oder juristische Bewertung, sondern um das Begreifen solcher als existenziell empfundenen Situationen.
Ein anderes Schaubild zum Vergleich:
Kurzvorstellung des Gedichts mit Hinweis auf Schillers „Wallenstein“
Das Gedicht beschreibt die Kampfeslust eines Lyrischen Ichs- Es beginnt mit einem Rückblick auf die Vorbereitung eines Kampfes. Es folgt das wohlige Ausruhen nach der Schlacht. In der zweiten Hälfte dann eine erneute „Aufbruch“-Situation, die aber dann in eine seltsame „Es war wie wenn“-Grauzone übergeht. Bei ihr weiß man nicht, ob es jetzt ein Element der „Traumstunden“ (08) ist oder dann irgendwie doch Realität. Auf jeden Fall gibt es am Ende eine Einstellung, die alles annimmt zwischen Siegesfeiern und einem Dasein „ausgestreckt unter Leichen“ (16).
Man wird hier wieder an die Kriegsbegeisterung junger Deutscher erinnert, die 1914 eben mal schnell ein Notabitur machten und dann singend in die Schlacht zogen (und zu einem großen Teil starben). Man spricht auch von dem Mythos von Langemarck.
Diese Haltung wiederum war stark vorbereitet durch eine große Schiller-Begeisterung, der in seinem Drama „Wallenstein“ folgendes Motto hinterlassen hat: „Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.“ Das passt genau zum Schluss des Gedichtes.
Wenn man etwas genauer hinschaut, hat man eine Art Lied mit der folgenden Strophe:
Drum frisch, Kameraden, den Rappen gezäumt,
Die Brust im Gefechte gelüftet!
Die Jugend brauset, das Leben schäumt,
Frisch auf! eh der Geist noch verdüftet.
Und setzet ihr nicht das Leben ein,
Nie wird euch das Leben gewonnen sein.
Klausurbedeutung:
Das Folgende haben wir aus einem EBook übernommen, das wir hier mit Erlaubnis des Verfassers nutzen dürfen. Da werden noch mehr wichtige Gedichte des Expressionismus vorgestellt und jeweils im Hinblick auf den möglichen Einsatz bei einer Klausur bewertet.
Zu bekommen ist es u.a. hier.
Klausurbedeutung: @@@
(Die Anzahl der @-Zeichen macht unsere Einschätzung der Klausurbedeutung sichtbar – wie die Sternchen bei Hotel-Bewertungen!)
Das Gedicht kann sicher als Klausurtext genommen werden, macht aber etwas Schwierigkeiten, was die Perspektive und die Zeit- bzw. Realitätsverhältnisse angeht.
Auf jeden Fall können die Kampfbegeisterung und Risikobereitschaft am Ende erkannt werden.
Weitere Anregungen:
- Man kann zum einen die Haltung in diesem Gedicht mit der bei Eichendorff in „Frische Fahrt“ vergleichen. Man merkt dann, dass eine bestimmtes Selbstverständnis der Romantik tatsächlich beide Welten verbindet, auch wenn bei Eichendorff nicht von Krieg die Rede ist.
- Eine andere Vergleichssituation wären bei bestimmten Sportarten gegeben: Als im Jahre 1878 Reinhold Messner und Peter Habeler zum Beispiel das erste Mal einen 8000er ohne Sauerstoffmaske bestieg, gingen sie auch ein sehr großes Risiko ein. Oder man denke an Felix Baumgartner, der im Jahre 2012 aus faset 40 km Höhe mit dem Fallschirm absprang. Aber auch die sogenannten Apnoe-Taucher, die mit einem Atemzug Tiefen von mehr als 200 m im Meer erreichen.
Darüber hinaus gibt es viele Mutproben, die auch ein gewisses Risiko mit sich bringen, aber eben auch diesen Kick. Man könnte sich fragen, inwieweit Menschen so was brauchen.
Anregung für den Vergleich mit einem Gedicht der Romantik:
Die problematische Bereitschaft, alles zu riskieren, um sich dabei zu erleben, hat viel Ähnlichkeit mit Eichendorffs Gedicht „Frische Fahrt“.
Nähere Infos dazu gibt es hier:
https://textaussage.de/eichendorff-frische-fahrt
Joseph von Eichendorff
Frische Fahrt
01: Laue Luft kommt blau geflossen,
02: Frühling, Frühling soll es sein!
03: Waldwärts Hörnerklang geschossen,
04: Mutger Augen lichter Schein;
05: Und das Wirren bunt und bunter
06: Wird ein magisch wilder Fluss,
07: In die schöne Welt hinunter
08: Lockt dich dieses Stromes Gruß.
09: Und ich mag mich nicht bewahren!
10: Weit von euch treibt mich der Wind,
11: Auf dem Strome will ich fahren,
12: Von dem Glanze selig blind!
13: Tausend Stimmen lockend schlagen,
14: Hoch Aurora flammend weht,
15: Fahre zu! Ich mag nicht fragen,
16: Wo die Fahrt zu Ende geht!