Schnell durchblicken: Zoë Jenny, „Der Flug des Kondors“ – 4 Spalten-Interpretation (Mat5592)

Worum es hier geht:

Präsentiert wird eine interessante Geschichte, in der ein gefangener Raubvogel anscheinend das Beziehungsgeflecht von drei Personen verdeutlichen soll.

Wegen der relativen Unklarheit der Geschichte ist sie ein guter Ausgangspunkt für eine „dialektische Erörterung“ der Frage nach der Bedeutung des Kondors.

Hier schon mal ein Vorgeschmack auf die Methode, die wir gleich anwenden werden.

Sie hat den Vorteil, dass man gleich zielgerichtet liest und damit am Ende Zeit spart.

Wir haben das in einem ersten Schritt aus technischen Gründen nicht in Spaltenform gemacht, aber schon drauf geachtet, dass die verschiedenen Säulen-Aspekte bei jeweiligen Inhalt festgehalten wurden.

Die Geschichte war Teil einer Abiturprüfung. Näheres dazu siehe hier:

Zur inhaltlichen Entwicklung – Abschnitt 1: Welt des Kondors

  • Direkter Einstieg, typisch für eine Kurzgeschichte, aus der Sicht eines Erzählers.
  • Wird dann zu einer recht ausführlichen Schilderung einer Fress-Situation des Kondors.
  • Deutlich wird ein Spannungsverhältnis zwischen den Tieren.
  • Am wichtigsten ist sicher der Hinweis, dass der Käfig „verwahrlost“ wirkt. Außerdem ist vom „Geruch schlecht gehaltener Tiere die Rede“.
  • In die Gegenrichtung könnte gehen, dass der Kondor beginnt, „sein Gefieder zu putzen“ – und er dann „reglos wie träumend“ sitzen bleibt.
  • Leserlenkung / Aussagen-Hypothese 1:
    Man vermutet schnell, dass eine mögliche Aussage der Geschichte die Kritik an der Unnatürlichkeit des Umgangs mit den Tieren ist.
  • Leserlenkung / Aussagen-Hypothese 2:
    Nicht ganz so eindeutig, aber interessant ist der Hinweis auf die Reste von Natürlichkeit beim Kondor: Federn putzen und träumen.
    Dabei ist aber zu beachten, dass das eine Interpretation des Erzählers ist.

Abschnitt 2: Welt des Pärchens, Teil 1: Rückblick auf früher

  • Ab Zeile 20 schwenkt die Erzählkamera vom Käfig weg hin auf einen Feldweg.
  • Auch hier wieder kurzgeschichtentypisch nur der Hinweis auf ein Paar. Der Kontext wird im Gespräch präsentiert:
    • Sie „mussten“ herkommen.
    • Der Mann zu Elena:
      konnte sich nicht verabschieden und will dann wenigstens „unseren Ort noch einmal sehen, den Ort, an dem wir uns jahrelang getroffen haben“
    • Beide sind anscheinend in einer Beziehung: „den Kopf auf seine Schulter gelehnt“
    • Rückblick auf den Ort als ihr „Versteck“
      • „Hierher flüchteten wir uns nach der Schule.“
        Sie kennen sich also schon lange und nahmen im Unterschied zum Kondor diesen Ort als Zuflucht.
      • „Wir haben über den Kondor gelacht, weil er immerzu gegen das Gitter flog und von den Papageien angegriffen wurde.“
        Rückblick auf negatives menschliches Zuschauerverhalten
      • „Wenn der Kondor schlief, war er unsere Zielscheibe, und wir haben Steinchen nach ihm geworfen.“
        Verstärkung in Richtung Quälerei
      • „Irgendwann rechneten wir zum Spaß aus, wie viele Quadratmeter Flugraum dem Vogel eigentlich zur Verfügung stehen.“
        Kontrast zwischen Leiden des Vogels und Spaß der Betrachtung
      • „Aber er nahm es plötzlich ernst und fand, es sei tödlich wenig. Dann kam er auf die Idee, den Vogel freizulassen. Mit einer Drahtschere wollte er das Gitter aufschneiden.Er war wie besessen davon, den Kondor zu befreien.“
        Einbeziehung einer dritten Person, die damals schon anders, tierfreundlicher gedacht hat.“‚Erst als er dann dich kennengelernt hat…’“
        Hinweis auf eine Veränderung, die sich damals in der Figurenkonstellation ergeben hat.
    • Reaktion Elenas „harsch“ – es gibt da also negative Konnotationen.
      Offensichtlich unterschiedliche Haltung zwischen Phil und Elena:
      Phil hat das Bedürfnis, sich auf diese Weise von dem Dritten zu verabschieden.
      Elena meint, mit ihm „abgeschlossen“ zu haben, denkt also nicht gerne an ihn zurück:
      Leserlenkung/Vermutung. Die beiden hatten eine Beziehung, die nicht gut ausgegangen ist.

Abschnitt 3: Welt des Pärchens, Teil 2: Abschiedsbrief

  • Neuer Aspekt: Abschiedsbrief:
    • Elena möchte wissen, wohin Phil den Abschiedsbrief gelegt hat.
    • Antwort: Gut sichtbar auf den Küchentisch
    • Elena geht davon aus, dass der Verlassene den Brief wochenlang mit sich herumtragen werde und nicht begreift, dass sie mit Phil abgehauen ist.
    • Sie vermutet auch, dass er sie verachten und das allen deutlich machen wird.
    • Leserlenkung: Offensichtlich waren der Dritte und Elena ein Paar und sie hat den Partner gewechselt und ist verschwunden. Typisch verletzte Reaktion des Verlassenen wird angenommen.
  • Kritik:
    Man merkt deutlich, wie der Erzähler hier mit den Lesern herumspielt, ihnen absichtlich Infos vorenthält, die das Pärchen natürlich kennt.
    Das spricht für eine eher personale Erzählhaltung: Der Erzähler tut so, als wisse er nicht mehr als jemand, der die Situation miterlebt und auch das Gespräch mit anhört.
  • Phil wechselt den Aspekt hin zum Kondor, der nun seine Befreiungschance verloren hat. Das erschreckt ihn. Er denkt also anders als früher.
  • Elena bleibt auf ihrem Beziehungsbewältigungs-Trip und glaubt, ihr Exfreund habe es geahnt.
  • Literarisches Mittel: Die Sonne, die verschwindet – entspricht der alten Beziehungssituation.
  • Phi widerspricht und verweist darauf,
    • dass die beiden fast verheiratet gewesen wären.
    • Außerdem geht er davon aus, dass er von dem Dritten nicht als Konkurrenz angesehen worden sei, was den Überraschungseffekt verstärkt.
  • Interessant ist die Wiederholung des Signals, dass Phil der Kopf Elenas auf der Schulter zu schwer wird.
    Leserlenkung: Gibt es da eine Grenze der neuen Beziehung, die schon erreicht ist?
  • Dazu passt auch die Frage Phils: „Bereust du es?“ (65) und die damit verbundene körpersprachliche Kommentierung: „wie ein Geschoss“ – das richtet sich zwar auf den Zigarettenstummel – aber in einem literarischen Text wird nichts ohne Grund bzw. Absicht erzählt.
  • Interessant auch Elenas Reaktion, die anscheinend jetzt noch nicht glücklich ist. Offensichtlich ist Phil nicht der Inhalt ihrer Zukunftsträume, sondern nur die Flucht.
  • Kreativität: Hier kann man sich gut vorstellen, wie das weiter läuft. Phil muss sich nicht wundern, wenn er von dieser Frau bei passender Gelegenheit auch verlassen wird.

Abschnitt 4: Das Pärchen und der Kondor

  • Ab Zeile 67 werden die Welt des Pärchens und die des Kondors enger verbunden.
  • Interessant ist, dass der Kondor nicht merkt, dass er von einem Papagei zerrupft wird.
  • Leserlenkung / Deutungshypothese:  Hier fragt man sich, wofür dieser Kondor steht: Die Vermutung ging ja in die Richtung, dass Phil sich gefangen fühlt wie der Kondor. Das Zerrupfen könnte auf die angespannte Beziehungslage zwischen ihm und Elena hindeuten.
  • Dazu würde der Schluss passen, in dem der Kondor sich aufrafft und etwas startet, was Elena als Angriff versteht, vor dem sie sich schützen will.
  • Allerdings macht der Erzähler deutlich, dass dieser Angriff am Gitter endet.
  • Leserlenkung/Deutungshypothese: Das könnte darauf hindeuten, dass hier eine Zwangsbeziehung besteht, aus der Phil sich aus irgendeinem Grunde nicht  befreien kann. Elena wäre dann das Gitter, über das er nicht hinauskommt.
  • Das müsste noch genauer geprüft werden – am besten durch eine dialektische Erörterung dieser Hypothese. Aber uns soll das hier zunächst mal reichen.

Kritik/Kreativität:

  • Ärgerlich an der Geschichte ist, dass sie sich nur in Andeutungen ergeht.
  • Die Autorin hat es nicht für nötig gehalten, genauer auf die Vorgeschichte einzugehen.
  • Damit wird wirkliches Verständnis der Vorgeschichte und der Perspektiven schwierig.
  • Aber man kann das auch positiv sehen, indem man vom Titel ausgehend überlegt, warum dieses gefangene Tier hier offensichtlich als Symbol für die Situation der Menschen genommen wird.
  • Deutlich ist ja am Ende auch, dass der Kondor „seinen kahlen, fast menschlichen Blick“ auf Elena richtet.

Was zu tun wäre, was man tun könnte:

  • Wie schon angedeutet, wäre genauer zu prüfen, welche Bedeutung der Kondor als Bild für die Situation des Pärchens hat.
    • Er ist in einer unnatürlichen Umgebung gefangen,
    • kann nur von einer besseren Welt träumen und sich höchstens für sie bereit halten.
  • Vergessen sollte man aber auch nicht, dass der Dritte doch vielleicht in diesem Zusammenhang eine größere Rolle spielt, als wir bisher herausgearbeitet haben:
    Der wollte den Kondor ja anscheinend befreien. Könnte das also für Elena stehen, die möglicherweise im Gefängnis eines problematischen Beziehungsgefühls steckt.
  • Die Konkretisierung der Hypothese könnte also so aussehen – und dann auch kreativ für eine Fortsetzung der Geschichte genutzt werden:
    • Elena ist auf eine bestimmte Art und Weise beziehungsunfähig – zumindest, was die Ebene der Ehe angeht.
    • Der Dritte wollte sie aus dieser Gefangenschaft befreien.
    • Aber das sie umschließende Gitter ist zu stark.
    • Das würde bedeuten, dass die Flucht mit Phil genau das zeigt. Elena wollte eine Lösung finden, nämlich eine neue Beziehung (Kopf anlehnen) eingehen, die wiederum dem Fluchtpartner zu schwer ist.
    • Die einfachste Fortsetzungsperspektive wäre, dass Elena
      • entweder auf ihrem Phil-Trip bleibt und dann enttäuscht wird, vielleicht von ihm verlassen wird
      • Oder aber sie sucht sich einen neuen Fluchtpartner. Allerdings muss beachtet werden, dass der Dritte sie in eine Ehe hinein befreien wollte, während Phil wohl so weit nicht gehen will. Ihm ist ja schon das Kopf-Anlehnen zu schwer.
      • Also wäre wohl die einfachste Lösung, dass Phil seine Ablehnung einer engeren Beziehung immer deutlicher werden lässt
      • und Elena darauf deutlich reagiert mit Vorwürfen gegenüber der Männerwelt allein – mit dem Schlusspunkt: „Gut, dass ich es bei dir so schnell gemerkt habe und nicht erst kurz vor einer Hochzeit – aber danke, dass du mir geholfen hast, nicht nur Kai (so würde sie dann den Dritten erstmals mit Namen nennen), sondern alle Männer.“

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