Schubart, „Der kalte Michel“ – eine Ballade mit besonderer Erzählstrategie und scheinbar überraschendem Ende (Mat4431)

Worum es hier geht:

Vorgestellt wird eine Ballade, die es in sich hat. Sie stammt zwar aus dem 18. Jhdt, zeigt aber ein Meisterstück der Rhetorik bzw. der Kommunikation.

Wer also aus einer einfachen, wenn auch wichtigen Nachricht ein richtiges Präsentationsspiel machen will, der sollte sich genau anschauen, was hier abgeht.

Zu finden ist diese Ballade u.a. hier.

Auf der folgenden Seite wird auch ein Video vorgestellt, das sich mit dieser Ballade beschäftigt:
https://textaussage.de/grandiose-ballade-mit-kommunikationsgenie-schubart-der-kalte-michel

Anmerkungen zur Überschrift und der Gattungsbezeichnung:

Christian, Friedrich, Daniel Schubart

Der kalte Michel

Erzählung.

  • Interessant ist hier, dass der Verfasser sich entschieden hat, dieses Gedicht gleich als Erzählung zu präsentieren.
  • Damit hebt er eine besondere Eigenart der Ballade hervor. Sie ist zwar ein Gedicht, aber es wird auch etwas erzählt – das übrigens durchaus dramatische Züge enthalten kann.
  • Der Titel sagt noch nicht viel aus, wird aber verständlich, wenn man die Ballade gelesen hat: „Kalt“ heißt hier nüchtern, souverän, kühl den Effekt berechnend und auch erreichend.

Anmerkungen zu Strophe 1:

  1. War einst ein deutscher Junker
  2. Im prächtigen Paris;
  3. Er wollt‘ sein Geld in Ehren
  4. Und mit Geschmack verzehren
  5. In Frankreichs Paradies.
  • Die erste Strophe präsentiert eine typisch lockere Erzähleinleitung, die sich auf das Wesentliche konzentriert.
  • Es geht um einen Junker, also einen jungen Adeligen, der in Paris einfach gut leben möchte.
  • Genauere Hinweise auf den Namen und auf das Jahr fehlen, darauf kommt es offensichtlich nicht an. Man kann vermuten, dass es hier um einen allgemeinen Fall geht.

Anmerkungen zu Strophe 2:

  1. Auf einmal blieb der Wechsel
  2. Ihm allzulange aus.
  3. Er schrieb zwar viel naive
  4. Und wohlgesetzte Briefe,
  5. Doch keiner kam von Haus.
  • Die zweite Strophe präsentiert dann schon den Bruch der schönen Verhältnisse.
  • Hingewiesen wird zunächst auf das ausbleibende Geld und anschließend auf die nicht funktionierende Kommunikation mit dem Elternhaus.
  • Interessant ist der Hinweis auf eine gewisse Naivität bei diesem Junker. Der hat wohl nicht viel mehr zu bieten als seine adlige Herkunft.

Anmerkungen zu Strophe 3:

  1. Des Franzmanns Complimente
  2. Die waren jetzt nicht groß;
  3. Nur, die mit vollen Händen
  4. Ihr deutsches Geld verschwenden,
  5. Sieht gerne der Franzos.
  • Die dritte Strophe zeigt dann die Distanz des lyrischen Ichs zu den Franzosen, wie sie damals durchaus in Deutschland weit verbreitet war.
  • Frankreich war ein mächtiges Land, dessen Könige sich auf Kosten deutscher Gebiete bereicherten. Man denke etwa an das Elsass.
  • Das sogenannte „Deutsche Reich“ war in viele kleine Gebiete aufgeteilt, konnte sich dagegen kaum wehren. Daraus entstanden dann entsprechende Ressentiments.
  • Hier wird den Franzosen verallgemeinernd eine menschliche Eigenschaft zugeschrieben, die man wohl grundsätzlich in allen Völkern und Kulturen vorfinden kann.

Anmerkungen zu Strophe 4:

  1. Da war der Junker traurig,
  2. Und hängt das Mäulchen schief.
  3. Es äugelt ihm itzunder
  4. Vergeblich der Burgunder,
  5. Er will nur Geld und Brief.
  • Diese Strophe verstärkt den Eindruck, dass dieser Junker nicht viel drauf hat.
  • Er kann nur jammern und konzentriert sich nur auf seinen Verlust.

Anmerkungen zu Strophe 5:

  1. Einst schaut er zu dem Fenster
  2. Mit dunkelm Blick hinaus;
  3. Schon träumt er von Pistolen,
  4. Von Mord und Teufelholen:
  5. Da kam sein Knecht von Haus.
  • In dieser Strophe verschlechtert sich seine Situation und er denkt sogar an Selbstmord.
  • Dann kündigt die Ankunft eines Knechtes von zu Hause eine mögliche positive Wende an. Zumindest eine Erklärung.

Anmerkungen zu Strophe 6:

  1. Gleich schrie er: »Guter Michel,
  2. O komm doch ‚rauf zu mir!«
  3. Der Michel sprach: »Ihr Gnaden!
  4. Ein Schöpplein könnt‘ nicht schaden;
  5. Ich weiß kein Wirthshaus hier.«
  • Diese Strophe präsentiert eine Verzögerung.
  • Die erwartungsvoll Begeisterung des Junkers wird durch die Bitte des Knechtes, erst mal etwas trinken zu dürfen, ausgebremst.

Anmerkungen zu Strophe 7:

  1. Der Kerl war nun im Zimmer;
  2. Der Junker fragt: »Was Neu’s?«
  3. Doch Michel setzt sich nieder,
  4. Labt erst mit Wein die Glieder,
  5. Dann sagt er, was er weiß.
  • In dieser Strophe setzt sich die Verzögerung fort.
  • Interessant die etwas abschätzige Bezeichnung des Besuchers als „Kerl“.

Anmerkungen zu Strophe 8:

  1. »Ei, denkt doch, gnäd’ger Herre!
  2. Der Rabe ist verreckt.
  3. Er hatte wenig Futter,
  4. Auf einmal fraß er Luder,
  5. Bis er davon verreckt.“
  • In dieser Strophe erlaubt das Gedicht sich einen Scherz mit dem Leser.
  • Denn in der Realität ist es kaum anzunehmen, dass der Knecht sich erst mal mit Nebensächlichkeiten beschäftigt, was die Informationslage angeht.
  • Das ist aber natürlich zugleich auch ein literarisches Mittel, um die Spannung zu erhöhen.
  • Die erste Information klingt noch äußerst harmlos: Vielleicht gab es hier wirklich einen Raben, der wie ein Haustier gehalten wurde oder sich verhielt.

Anmerkungen zu Strophe 9:

  1. »Wer gab ihm so viel Luder?«
  2. Frägt Junker schon gerührt.
  3. »Ha! eures Vaters Pferde –
  4. Ihr wißt’s, von großem Werthe,
  5. Die waren halt krepirt.«
  • Erstaunlicherweise lässt sich der Junker auf diese Ebene des Gesprächs ein, obwohl sie überhaupt nicht seine Interessen Lage entspricht.
  • Der Knecht kommt jetzt mit einer zweiten Ebene der Gesamtrechnung, die eine Verschärfung darstellt: Jetzt geht es nicht um einen Raben, sondern schon mal um wertvolle Pferde.

Anmerkungen zu Strophe 10:

  1. »Was, meines Vaters Pferde?«
  2. »Ha! ’s ist ja schon bekannt!
  3. Ihr Gnaden, muß nur sagen,
  4. Vom vielen Wassertragen
  5. Verreckten sie beim Brand.«
  • Es geht scheibchenweise weiter.
  • Allerdings werden In dieser Strophe die scheinbaren Nebensächlichkeiten langsam mit dem Hauptproblem verbunden.

Anmerkungen zu Strophe 11:

  1. »Was sagst von einem Brande?«
  2. »Hm! ja in euerm Haus.
  3. ‚S ist eben kein Mirakel;
  4. Denn, spielt man mit der Fackel,
  5. So kömmt leicht Feuer aus.«
  • Hier geht es dann im gleichen Stil weiter. Es wird nicht gleich das Ende und damit das eigentlich Wichtige erzählt, nämlich das Ergebnis des Brandes.
  • Sondern es geht erst mal um allgemeine Lebensweisheiten.

Anmerkungen zu Strophe 12:

  1. »Ach Gott! mein Schloß verbrannte?«
  2. »Ihr Gnaden sagt es gleich.
  3. Mit Fackeln und mit Kerzen
  4. Ist wahrlich nicht zu scherzen,
  5. Wie bei der Mutter Leich‘.«
  • Jetzt wird es langsam doch sehr peinlich, weil das Gedicht die Erzählstrategie der Verdrängung soweit treibt, dass sogar der Tod der Mutter als Nebensache behandelt wird.

Anmerkungen zu Strophe 13:

  1. »Wie, Michel, meine Mutter?«
  2. »Ja freilich, sie ist tot!
  3. Sie hat sich halt bekümmert,
  4. Und Kümmernis verschlimmert
  5. Das Blut, und bringt den Tod.«
  • Auch in dieser Strophe wird die nächste Unglückssituation erst mal nur angedeutet, ohne dass ihre wirkliche Bedeutung deutlich wird.

Anmerkungen zu Strophe 14:

  1. »Wer hat sie denn bekümmert?«
  2. »Ihr Vater, wie man sagt.
  3. Der hat vor sieben Wochen
  4. Halt das Genick gebrochen,
  5. Und zwar auf einer Jagd.«
  • In dieser Strophe wird dann an der Stelle Klarheit geschaffen.
  • Nicht nur das Schloss ist abgebrannt und die Mutter tot,
  • sondern auch der Vater hat einen tödlichen Unfall erlitten.

Anmerkungen zu Strophe 15:

  1. Der Junker sich den Schädel
  2. Mit beiden Fäusten schlug –
  3. »Wär‘ ich doch nie geboren!
  4. Ha! alles ist verloren!
  5. Verdammter Hund, genug!«
  • Diese Strophe bringt dann die verzweifelte Reaktion des Junkers.
  • Deutlich wird aber auch sein Ärger über den Erzähler, der als „verdammter Hund“ bezeichnet wird.
  • Was jetzt kommt, kann man erst mal nicht wissen.
    • Es könnte sein, dass der Junker den Besucher mehr oder weniger rauswirft, denn er hat jetzt andere Sorgen.
    • Es kann natürlich auch sein, dass da noch eine Art Nachladung kommt. Vielleicht folgen ja schon die Häscher, die vom Junker die Bezahlung offener Rechnungen verlangen.

Anmerkungen zu Strophe 16:

  1. »Ist nicht so arg, sprach Michel,
  2. Was braucht’s des Lärmens da?
  3. Ich schwömm‘, bei meiner Ehre,
  4. Gleich itzo auf dem Meere
  5. Fort nach Amerika.«
  • Hier folgt eine etwas seltsame Bemerkung des Knechtes, der den Schaden relativiert.
  • Verbunden wird es mit dem seltsamen Ratschlag, gleich nach Amerika zu gehen. Das löst einen neuen Spannungschub aus.
  • Mit Amerika sind hier wohl die englischen Kolonien gemeint, die in dieser Zeit zunehmend selbstständiger wurden und vor allem für viele Europäer ein Ort der Hoffnung im Sinne von Selbstverwirklichung waren.

Anmerkungen zu Strophe 17:

  1. Und mir nichts, dir nichts, plötzlich
  2. Floh er mit ihm davon.
  3. Europa bleibt zurücke,
  4. Sie machen bald ihr Glücke
  5. Beim großen Washington.

Auswertung

  • Es erfolgt aber erstaunlicherweise kein neuer Schicksalsschlag. Möglich wäre ja gewesen wie eben schon angedeutet, dass die Familie noch Schulden hat und jetzt die Verfolger schon fast vor der Tür stehen.
  • Das wäre eine mögliche Erklärung des Ratschlags in Richtung Flucht.
  • Stattdessen ein seltsames Happy End.
    • Weder gibt es auch nur ansatzweise Anzeichen von Trauer bei dem Junker
    • noch wird auf die Probleme hingewiesen, die dieser naive junge Adlige wohl in der neuen Welt haben dürfte,
  • Denn dort
    • gibt es keinen Vorzug der Geburt mehr
    • und auch der Knecht ist nicht automatisch seinem Hirn untergeordnet.
    • Auch ist keine Rede davon, dass ja die Überfahrt auch bezahlt werden muss.
    • Außerdem dürfte dieser Junker über so gut wie keine Voraussetzungen verfügen, die ihn in Amerika zum Selfmademan machen könnten.

Kreative Anregung

  • Von daher schreit diese Ballade regelrecht danach, sich ein anderes, realistisches Ende aus zu denken.
  • Es ist wirklich erstaunlich, dass ein vom Ansatz her so stark sozialkritisches Gedicht in solch einem Maße eine mögliche politische Aussage verfehlt.
  • Zumindest hat die letzte Strophe die Zukunftsvision etwas offen lassen können, dann hätte sich wohl eher ein kritisches Gespräch ergeben.
  • Man kann das natürlich auch positiv sehen. In dem Falle würde die letzte Strophe einfach nur den Blick lenken auf das neue Land der Freiheit, das die neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika viele Europäer darstellen. Bezeichnend ist ja, dass einer der Führer der amerikanischen Revolution mit dem Attribut „groß“ herausgestellt wird.
  • Die praktischen Fragen, wie ein Adliger in dieser nicht Adelswelt zurecht kommt, würde dann auf den zweiten Platz verwiesen. Es geht nicht zu sehr um Kritik am Adel, sondern um seine Ersetzung in einer ganz anderen Welt.
  • Man kann die Fortsetzung natürlich auch gestalten in Richtung eines Lernprozesses, der beim Adligen ausgelöst wird und sicher nicht ohne Schmerzen abläuft.
  • Diese könnten von dem ehemaligen Diener durchaus auf humorvoll-ironische Art begleitet werden.

Weitere Infos, Tipps und Materialien