Stefan Zweig, „Sonnenaufgang in Venedig“ – nicht alles erscheint hier ganz gelungen ;-)

Ein Gedicht, das nicht ganz überzeugt

Es geht um ein interessantes Gedicht, das allerdings nicht ganz gelungen erscheint, vor allem an einer Stelle.

Und wenn man etwas recherchiert, wird man durchaus ermutigt, auch große Dichter mal etwas kritisch zu sehen.

Besonders wichtig auch für die Schule – denn „Nur Bewunderung tötet das Verständnis“ 😉

Die Überschrift

Stefan Zweig

Sonnenaufgang in Venedig

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Anmerkungen zum Titel:

  • Die Überschrift enthält gleich zwei positive Elemente. Da ist zum einen ein touristischer Sehnsuchtsort für viele Menschen.
  • Dazu kommt mit dem Sonnenaufgang  etwas, worüber sich wohl jeder Mensch normalerweise freut, ganz gleich, wo er sich befindet.

Anmerkungen zur 1.  Strophe

  1. Erwachende Glocken. – In allen Kanälen
  2. Flackt erst ein Schimmer, noch zitternd und matt,
  3. Und aus dem träumenden Dunkel schälen
  4. Sich schleiernd die Linien der ewigen Stadt.

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  • In der ersten Strophe beschreibt das lyrische Ich das, was es morgens hört und sieht und was es dann auf die Schönheit einer besonderen Stadt aufmerksam macht.

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Anmerkungen zur 2.  Strophe

  1. Sanft füllt sich der Himmel mit Farben und Klängen,
  2. Fernsilbern sind die Lagunen erhellt. –
  3. Die Glöckner läuten mit brennenden Strängen,
  4. Als rissen sie selbst den Tag in die Welt.

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  • Die zweite Strophe verstärkt dann den Eindruck noch von Farben und Klängen.
  • Außerdem wird auf eine Besonderheit Venedigs aufmerksam gemacht, nämlich die Lagunen und die mit Ihnen verbunden besoderen Farben.
  • Etwas seltsam ist das, was über die Glöckner gesagt wird, also die Leute, die zur Zeit von Stefan Zweig noch mit der Kraft ihrer Arme die Glocken in Bewegung setzen mussten.
  • Erklären kann man sich das möglicherweise durch das Sonnenlicht, das auf die Seile fällt. Ansonsten soll wohl die Dynamik des Vorgangs hervorgehoben werden.
  • Die letzte Zeile verbindet die Aktivität dieser Menschen mit dem Anbruch des Tages.

Anmerkungen zur 3. Strophe

  1. Und nun das erste flutende Dämmern!
  2. Wie Flaum von schwebenden Wolken rollt,
  3. Spannt sich von Turm zu Türmen das Hämmern
  4. Der Glocken, ein Netz von bebendem Gold.

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  • In dieser Strophe wird zunächst einmal die Lichtveränderung, die mit dem Anbruch des Tages verbunden ist, als Fluten empfunden. Möglicherweise wird hier eine Verbindung mit den vielen Wasserflächen in Venedig hergestellt oder es soll auch dadurch nur die Dynamik des Vorgangs deutlich werden.
  • Interessant dann, dass der Glockenklang als etwas dargestellt wird, das man sehen kann. Am Ende steht dann die Vorstellung von einem „Netz von bebendem Gold“. Dieses Bild verbindet die Vorstellung von einem Zusammenhang mit Bewegung, vielleicht auch mit Erschütterung, und dem wertvollsten Material, das die Menschen kennen, dem Gold.
  • Insgesamt präsentiert diese Strophe also eine sehr eigenwillige Schilderung dessen, was man an einem sonnigen Morgen in einer Stadt wie Venedig sehen kann.
  • Anregung: Man könnte sich mal überlegen, ob das nicht auch weniger individuell dargestellt werden könnte. Oder man überlegt selbst einmal, wo man das Gefühl haben kann, dass Klänge auch optisch beschrieben werden können. Man denke etwa an ein Konzert.

Anmerkungen zur 4.  Strophe

  1. Und schneller und heller. Ganz ungeheuer
  2. Bläht sich das Dämmern. – Da bauscht es und birst,
  3. Und Sonne stürzt wie fressendes Feuer
  4. Gierig sich weiter von First zu First.

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  • Auf ähnliche Weise sehr speziell und auch ein bisschen fragwürdig geht es dann in dieser Strophe weiter.
  • Zunächst ein Hinweis auf die Intensivierung der Dynamik.
  • Dann die Vorstellung von einer Dämmerung, die schließlich wie eine Blase den ganzen Himmel füllt.
  • Dass die dann durch das Auftauchen der Sonne selbst zerrissen wird, kann man sicherlich nachempfinden.
  • Aber ob man das gleich als „fressendes Feuer“ verstehen muss, das gierig von einem Haus zum andern weitergeht, kann zumindest diskutiert werden. Entweder hat Zweig selbst mal ein Feuer erlebt, das mehrere Häuser in Schutt und Asche gelegt hat oder er hätte hier vielleicht doch etwas mehr Rücksicht nehmen sollen auf Menschen, die dieses Bild nicht mehr mit Schönheit verbinden, sondern eher mit Gefahr.
  • Man hofft als Leser, dass die letzte Strophe hier jetzt mehr Klarheit schafft.

Anmerkungen zur 5.  Strophe

  • Der Morgen taut nieder in goldenen Flocken,
  • Und alle Dächer sind Glorie und Glast.
  • Und nun erst halten die ruhlosen Glocken
  • Auf ihren strahlenden Türmen Rast.

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  • Leider gibt es in der fünften Strophe keine positive Auflösung. Das Gedicht nimmt es einfach hin, dass ein Feuer, das von Dach zu Dach springt, sich in „goldenen Flocken“ ergeht. Damit hat man eine erstaunlich schöne Vorstellung von einem Feuerbrand.
  • Auch die Dächer präsentieren sich so, als hätten sie mit Feuer nichts zu tun.
  • Statt diesen Widerspruch der Bilder aufzulösen, wendet sich das Gedicht wieder den Glocken zu. Auch hier geht es rückblickend erstaunlicherweise nicht um die Schönheit des Glockenklangs, sondern um Ruhelosigkeit.

Fazit

  • Also insgesamt ein Gedicht, das auf sehr individuelle Art und Weise einen sonnigen Morgen in Venedig beschreibt.
  • Zumindest an einer Stelle erscheint die Bildkombination aber als sehr fragwürdig. Und als Leser hat man das Recht, auch bei einem berühmten Dichter mal etwas zu entdecken, was zumindest nicht ganz gelungen erscheinen kann.
  • Es bleibt allerdings die positive Anregung, ein Erlebnis im Urlaub auch mal auf ungewöhnliche Art und Weise darzustellen. Wenn man nicht darauf warten will oder im Urlaub Besseres zu tun hat, kann man ja auch mal versuchen, im ganz normalen Alltag etwas Passendes zu entdecken und zu beschreiben.
  • Hilfreich kann hier die folgende Seite sein, die neben vielen positiven Bemerkungen zu diesem weltberühmten Dichter auch die folgende kritische Einschätzung bereithält:
    „Bei der Literaturkritik gibt Zweigs überkandidelte Sprache Anlass zum Stirnrunzeln, weil sie bisweilen einer erhitzten, blumigen, mit bildungsträchtigen Vergleichen gefüllten Rhetorik erliegt und ihr meist Humor, Witz oder Ironie fehlen.“ https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/vermessungen/2124518-Stefan-Zweig-Umstrittener-Weltautor.amp.html
  • Überhaupt erscheint es uns für den Deutschunterricht wichtig, dass dort weniger vor Bewunderung regelrecht weggestorben wird, sondern die Auseinandersetzung mit etwas Großem einen selbst auch etwas größer machen kann. Auf jeden Fall kann so die Liebe zur Literatur vertieft und vor allen Dingen auch weitergegeben werden.
  • Wir bringen das einfach mal so auf den Punkt: „Bewunderung tötet das Verständnis.“

Weiterführende Hinweise