Unterschied zwischen Gedichten der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang (Mat5178)

Worum es geht:

Epochen sind nur ungefähre Zuordnungsmöglichkeiten zum Beispiel von Gedichten. Schriftsteller denken in der Regel nicht daran, für welche Epoche sie schreiben.

Dementsprechend gibt es auch fließende Übergänge.

Im Folgenden geht es um die Frage, ob ein Gedicht eher zur Empfindsamkeit oder zum Sturm und Drang gehört.

Beide Epochen sind durch Gefühle bestimmt, der Unterschied liegt darin, dass bei der Empfindsamkeit die Gefühle eher beim Einzelmenschen bzw. einer Freundschaft bleiben.

Im Sturm und Drang aber drängen die Gefühle nach außen, zur Tat.

Wir versuchen mal, das an zwei Beispielen zu zeigen:

Beispiel 1: Hölty, „Das Landleben“

Das Gedicht ist z.B. hier zu finden.

Das Landleben

  1. Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!
  2. Jedes Säuseln des Baums, jedes Geräusch des Bachs,
  3. Jeder blinkende Kiesel,
  4. Predigt Tugend und Weisheit ihm!
  • Überschrift und erste Strophe machen drei Dinge deutlich:
    • zum einen eine fast schon romantische Flucht aus der Stadt,
    • dann die intensive Wahrnehmung der Natur,
    • der man eine fast schon religiöse Wirkung zutraut.
  1. Jedes Schattengesträuch ist ihm ein heiliger
  2. Tempel, wo ihm sein Gott näher vorüberwallt;
  3. Jeder Rasen ein Altar,
  4. Wo er vor dem Erhabnen kniet.
  • Die zweite Strophe betont noch stärker als die erste die in der Natur möglichen Gefühle.
  • Besonders in letzten Zeile spürt man dem lyrischen ich eine gewisse Ergriffenheit ab.
  1. Seine Nachtigall tönt Schlummer herab auf ihn,
  2. Seine Nachtigall weckt flötend ihn wieder auf,
  3. Wenn das liebliche Frühroth
  4. Durch die Bäum‘ auf sein Bette scheint.
  • Diese Strophe wendet sich jetzt einem Vogel zu, der besonders für Schönheit und Natur steht.
  • Das endet dann in einer gewissen Idylle.
  1. Dann bewundert er dich, Gott, in der Morgenflur,
  2. In der steigenden Pracht deiner Verkünderin,
  3. Der allherrlichen Sonne,
  4. Dich im Wurm, und im Knospenzweig.
  • Diese Strophe konzentriert sich dann weiter auf eine Ergriffenheit,
    • die von der Natur ausgeht
    • und von der Religion geprägt ist.
  1. Ruht im wehenden Gras, wann sich die Kühl‘ ergießt,
  2. Oder strömet den Quell über die Blumen aus;
  3. Trinkt den Atem der Blüthe,
  4. Trinkt die Milde der Abendluft.
  • Auch diese Strophe betont wieder eine intensive Beziehung zwischen den Menschen und der Natur.
  1. Sein bestrohetes Dach, wo sich das Taubenvolk
  2. Sonnt, und spielet und hüpft, winket ihm süßre Rast,
  3. Als dem Städter der Goldsaal,
  4. Als der Polster der Städterin.
  • In dieser Strophe gibt es dann einen verstärkten Lobpreis des einfachen, natürlichen Lebens in deutlichem Kontrast zur Stadtwelt.
  1. Und der spielende Trupp schwirret zu ihm herab,
  2. Gurrt und säuselt ihn an, flattert ihm auf den Korb;
  3. Picket Krumen und Erbsen,
  4. Picket Körner ihm aus der Hand.
  5. Einsam wandelt er oft, Sterbegedanken voll,
  6. Durch die Gräber des Dorfs, setzet sich auf ein Grab,
  7. Und beschauet die Kreuze,
  8. Und den wehenden Totenkranz.
  • Diese Strophe ist durch ein Nacheinander von wiederholter intensiver Naturbetrachtung
  • und der Konfrontation auf die Welt des Todes bestimmt.
  1. Wunderseliger Mann, welcher der Stadt entfloh!
  2. Engel segneten ihn, als er geboren ward,
  3. Streuten Blumen des Himmels
  4. Auf die Wiege des Knaben aus.
  • Am Ende noch einmal der Rückgriff auf den am Anfang genannten Mann, der wohl stellvertretend für alle steht, die in gleicher Weise fühlen und denken.
  • Sein Lebensweg steht nach Auffassung des lyrischen Ichs ganz im Zeichen des Himmels und seines Segens.

Insgesamt merkt man deutlich, wie sehr die Perspektive auf einen bestimmten Ort gerichtet ist und dabei eher in einem Innenraum bleibt.

Beispiel 2: Stolberg, „Genius“

Das Gedicht ist z.B. hier zu finden.

Genius

24. Januar 1773.

  1. Den schwachen Flügel reizet der Äther nicht
  2. Im Felsenneste fühlt sich der Adler schon
  3. Voll seiner Urkraft, hebt den Fittich,
  4. Senkt sich, und hebt sich, und trinkt die Sonne.
  • Der Titel des Gedichtes erinnert schon an eine zentrale Vorstellung des Sturm und Drang.
  • Dessen Vertreter hatten sich nämlich von den Regelsystemen früherer literarischen Epochen, besonders des Barock, gelöst und sahen sich selbst als eine Art „Alter Deus“, als ein zweiter Schöpfer-Gott, natürlich im Bereich der Literatur.
  • Die erste Strophe macht dann am Beispiel des Adlers deutlich, welches Kraftgefühl mit dem Genie verbunden ist.
  • Gleich am Anfang der etwas despektierliche Hinweis auf Lebewesen, die von Natur aus schwächer ausgestattet sind.
  1. Du gabst, Natur, ihm Flug und den Sonnendurst!
  2. Mir gabst du Feuer! Durst nach Unsterblichkeit!
  3. Dies Toben in der Brust! Dies Staunen,
  4. Welches durch jegliche Nerve zittert,
  • Die zweite Strophe geht dann über vom Bild des Adlers zum lyrischen Ich
  • und beschreibt die Gefühle und die Sehnsucht, die mit dem Durst nach Unsterblichkeit verbunden sind.
  1. Wenn schon die Seelen werdender Lieder mir
  2. Das Haupt umschweben, eh das nachahmende
  3. Gewand der Sprache sie umfließet,
  4. Ohne den geistigen Flug zu hemmen!
  • Diese Strophe widmet sich der Entstehung von poetischen Werken
  • und beschreibt den natürlichen Übergang zwischen den Seelen werdender Liedern, also den künstlerischen Ideen, und der sprachlichen Umsetzung beziehungsweise Vollendung.
  1. Du gabst mir Schwingen hoher Begeisterung!
  2. Gefühl des Wahren, Liebe des Schönen, du!
  3. Du lehrst mich neue Höhen finden,
  4. Welche das Auge der Kunst nicht spähet!
  • In dieser Strophe beschreibt, das syrische Ich die Gaben, die es in sich fühlt und die mit seiner Vorstellung von Genie verbunden sind.
  1. Von dir geleitet, wird mir die Sternenbahn
  2. Nicht hoch, und tief sein nicht der Oceanus,
  3. Die Mitternacht nicht dunkel, blendend
  4. Nicht des vertrauten Olymps Umstrahlung!
  • Die letzte Strophe misst dann die eigentlich gar nicht mehr vorhandenen Grenzen der Fantasie und der Poesie aus.

Insgesamt ein Gedicht, das im Unterschied zu dem ersten alle Grenzen sprengt, sich alles zutraut.

Das hat zwar mit Politik hier noch nichts zu tun, zeigt aber ein kraftvolles Individuum, das sich alles zutraut und sicher nicht alles gefallen lässt.

 Anregung:

Ausgehend von diesen beiden Gedichten könnte man darüber nachdenken, wie es mit „Empfindsamkeit“ oder auch „Innerlichkeit“ heute aussieht:

Dabei kann man zum einen von den Begriffen ausgehen:

  • Empfindsamkeit würde dann bedeuten, dass jemand in stärkerem Maße als andere Gefühle zulässt und sie vielleicht auch ausdrückt.
  • Im Bürgertum des 19. und dann auch noch zum Teil des 20. Jdhts. galt es bei Männern als unschicklich, Gefühle zu zeigen.
  • Das änderte sich in den 70er Jahren des 20. Jhdts. Da entstand eine „neue Subjektivität“, die nach der stark politisierten Studentenbewegung der sogenannten 68er wieder das Private in den Vordergrund stellte.
  • Das entspricht der Wellenbewegung der modischen und eben auch literarischen Strömungen.
    Näheres findet man auf dieser Seite:
    https://abi.unicum.de/epochen/neue-subjektivitaet
  • Ein interessantes Beispiel für ein Gedicht dieser Zeit ist:
    „Das Bürofenster“ von Roman Ritter.
    https://schnell-durchblicken.de/roman-ritter-das-buerofenster-als-gedicht-der-neuen-subjektivitaet
  • Von diesem Gedicht kann man sich gut mal anregen lassen, im gleichen Stil selbst mal „Subjektivität“ zu Papier zu bringen. Das Schöne an diesem Beispiel ist, dass man dabei keineswegs sein Innerstes nach außen kehren muss. Es könnte sogar Spaß machen – und jeder gute Deutsch-Schüli weiß natürlich, dass bei einem literarischen Text das Ich nicht identisch ist mit dem Autor.
    Also: Nur Mut – und ran die eigene Seele – oder zumindest erst mal die eigenen Augen zur wirklichen Wahrnehmung der Wirklichkeit um sich herum nutzen 🙂

 

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