Warum gibt es unterschiedliche Interpretationen und wie geht man damit um? (Mat4597)

  1. Sprache ist nie eindeutig, weil die Wörter nie eindeutig sind.
    • Das hängt damit zusammen, dass ein Wort neben der Kernbedeutung (Denotation) noch viele beim einzelnen Menschen individuell mitschwingende Bedeutungen (Konnotationen) haben kann.
    • Man denke etwa an das Wort „Urlaub“ – zwei Menschen müssen in der Zeit nicht arbeiten, aber der eine will nur relaxen, der andere Abenteuer erleben.
  2. Während das schon für Sachtexte gilt, sind die Verständnisspielräume bei literarischen Texten noch sehr viel stärker ausgeprägt.
    • Denn dort wird mit Sprache gespielt
    • und von vornherein damit gerechnet, dass das komplette Kunstwerk erst im Auge des Betrachters entsteht.
    • Etwas übertrieben könnte man sagen:
      Ein literarischer Text ist umso kunstvoller, je mehr Anregungen zum eigenen Nachdenken und Mitfühlen aus ihm hervorgehen.
  3. Für Gedichte gilt das in noch höhere Maße,
    • weil es sich dabei um sehr konzentrierte Texte handelt,
    • die häufig sehr individuelle Sichtweisen präsentieren
    • und auch viele Lücken enthalten.
  4. Das ist normalerweise kein Problem:
    • Man kann so ein Kunstwerk einfach genießen …
    • … es sei denn, man ist in der Schule. Da geht es häufiger weniger um die Freude, die Gedichte zum Beispiel auslösen können,
    • Sondern um Analyse nach festen Vorgaben und entsprechend bestimmten Checklisten.
  5. Dennoch gibt es auch Hoffnung auf Verständigung über Inhalt und Aussage von literarischen Texten und auch von Gedichten:
    • denn ganz gleich, ob Lehrer oder Schüler, es gilt zunächst nur das, was im Text präsentiert wird.
    • Wenn man das genau aufnimmt, ist man schon mal auf der sicheren Seite.
    • Da wo es Unklarheiten und Lücken gibt, Ist das auch nicht schlimm:
      Man beschreibt sie zunächst und versucht dann diese Lücke mit eigenem Verständnis zu füllen.
    • Wichtig ist die Nachvollziehbarkeit, also eben nicht wildes Herum-Iinterpretieren mit schnellem Absprung vom gegebenen Text,
    • sondern so dicht wie möglich an ihm bleiben und begründen, warum man auf seine Lösungsansätze gekommen ist. Am besten formuliert man sie eindeutig als Hypothesen.
  6. Ein letzter wichtiger Punkt:
    • Natürlich sind die Leute im Vorteil, die viel von einem Dichter bereits gelesen haben.
    • Die können nämlich noch ganz andere Beziehungen herstellen zu anderen Texten und so auch leichter bestimmte Lücken füllen.
    • So spielt in Gedichten von Rilke zum Beispiel ein Engel eine besondere Rolle. Wenn man das weiß, kommt man mit einer entsprechenden Textstelle besser klar.
    • Für die Schule ist wichtig, dass man hier sorgfältig unterscheidet zwischen dem „Newcomer“- oder Einsteigerverständnis und dem von Insidern.
    • Das kann in der Regel von Schüler nicht verlangt werden, es sei denn, bestimmte Dinge sind vorher im Unterricht behandelt worden.
  7. Zuletzt sei noch auf zwei spezielle methodische Rettungsseile verwiesen:
    • Da sind zum einen die Vorteile des „induktiven“Vorgehens: Das bedeutet, dass man Schritt für Schritt die Signale des Textes auswertet und ein wachsendes Verständnis entwickelt. Das muss aber immer offen bleiben für Korrekturen.
    • Woher kommen die? Zur sogenannten „Hermeneutik“ (Lehre vom optimalen Verstehen) gehört, man immer wieder die eigenen Ideen am Text überprüft. So kommt man zu einem einigermaßen sicheren Verständnis, mit dem man auch bei anderen „landen“ (hat übrigens nichts mit Flugzeugen zu tun, wohl aber mit deren sicherem Ankommen am Ziel 😉 und zum Beispiel eine gute Interpretation schreibt.

Beispiel:

    • Expressionistische Gedichte – mal kritisch gesehen – Paul Boldt, „Auf der Terrasse …“
      • „Der Potsdamer Platz in ewigem Gebrüll
        Vergletschert alle hallenden Lawinen
        Der Straßentakte: Trams auf Eisenschienen
        Automobile und den Menschenmüll.“
    • In diesem Video wird gezeigt, dass auch Dichter nur Menschen sind und ihre Gedichte auch mal Vorurteile enthalten und oberflächlich sein können. Vor allem haben wir uns an dem Wort „Menschenmüll“ gestört und sind in einem Video auch sehr kritisch darauf eingegangen.
    • Dann aber sind wir zu Recht darauf hingewiesen worden, dass man das Gedicht auch anders verstehen kann: Es geht dann um den von Menschen produzierten und nicht entsorgten Müll. Da kann es durchaus sein, dass man selbst einem schnellen-Vorurteil verfällt und nicht alle Möglichkeiten berücksichtigt.
    • Also: Erst mal den Kontext berücksichtigen, auf den wir in dem folgenden Video eingehen. Und dann verschiedene Verständnismöglichkeiten berücksichtigen.
    • Die Dokumentation zum Video ist hier zu finden:

Wir freuen uns auf jeden Fall, wenn wir auf weitere Fälle hingewiesen werden. Einfach in einem Kommentar ablegen:
https://textaussage.de/schnelle-hilfe-bei-aufgaben-im-deutschunterricht

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