Wohlgemuth, Hildegard, „Industriestadt sonntag abends“ (Mat128)

Beispiel für die Interpretation eines Gedichtes „Industriestadt sonntags abends“ von Hildegard Wohlgemuth

Das Folgende ist eine konkrete Klassenarbeit mit Lösung.

Aufgabenstellung:

Interpretiere das Gedicht „Industriestadt sonntags abends“ von Hildegard Wohlgemuth, indem du:

  1. das Gedicht erst einmal allgemein vorstellst (Titel, Verfasser, Jahr der Entstehung, Strophen- und Verszeilen-Anzahl, fester Rhythmus? Reim? Thema (das bestimmt man erst, wenn man das Gedicht verstanden hat, also diesen Teil vielleicht erst mal freilassen),
  1. Bei dem vorliegenden Text mit dem Titel „Industriestadt sonntags abends“ handelt es sich um ein 1971 entstandenes Gedicht,  in dem das Verhältnis zwischen einem solchen Ort und den in ihm lebenden Menschen in ausdrucksstarken Bildern verdeutlicht wird.
  2. Das Gedicht besteht aus zwei unterschiedlich langen Versgruppen (7 und 9 Verse), es hat weder einen festen Rhythmus noch einen Endreim.
  1. die Verszeilen durchgehst und Schritt für Schritt die „Sprecheraktivitäten“ vorstellst. Dabei solltest du immer auf die entsprechenden Textstellen verweisen und wichtige Wörter und Wendungen auch zitieren. Zum Beispiel: „In den ersten drei Zeilen stellt der Sprecher [du kannst auch vom lyrischen Ich sprechen, wenn dir diese Variante lieber ist] die Industriestadt als Frau dar. Dabei werden die Abgase der Schornsteine mit Haaren verglichen, die gebürstet werden. In der zweiten Zeile macht der Neologismus „Schlothals“ diese Gleichsetzung besonders deutlich, weil der erste Teil zur Stadt und der zweite zu einem Menschen gehört.“ usw.,
  1. Zu Beginn der ersten Strophe betrachtet das lyrische Ich die im Titel angegebene Industriestadt zu dem dort ebenfalls angegebenen Zeitpunkt („sonntags abends“) wie eine Person, die sich gewissermaßen in Form bringt.
  2. In der ersten Zeile wird der nach oben steigende Rauch – wahrscheinlich von Fabrikschornsteinen –  wie langes Haar gesehen, das man beim Bürsten nach oben hält.
  3. In der zweiten Zeile ist von einem Schornstein die Rede, der sich wie ein Hals in die Länge streckt (also größer und eindrucksvoller macht) und zwar bis weit in den Morgenhimmel hinein. Wenn vom „Sternbild Schwan“ die Rede ist, bedeutet das, dass offensichtlich noch der Nachthimmel zu sehen ist.
  4. Etwas seltsam ist dann die Fortsetzung des Satzes in der dritten Zeile: Die „Luftröhre“ könnte für Entlüftungseinrichtungen stehen – entscheidend ist aber ein erster Hinweis auf die Befindlichkeit der Menschen in der Stadt, ihr Leben ist offensichtlich von „Langeweile“ geprägt.
  5. In der vierten und fünften Zeile ist die Rede davon, dass die Industriestadt schon vieles erlebt hat und nicht mehr die Jüngste ist, wie bei Menschen, die schon viele Narben, Macken und Ähnliches haben. Entscheidend ist, dass all diese kleinen äußeren Mängel „verdeckt“ (4) werden – und zwar „unter dem Neontrikot“, einem farbkräftigen Kleidungsstück, das wohl auf die Neonreklame moderner Städte anspielt.
  6. Die letzten beiden Zeilen der ersten Strophe ist besonders kompliziert, weil dort mehreres zusammenkommt: Zunächst einmal gibt es die schon mehrfach angesprochene Ebene des Sich-schön-Machens, wozu auch gehört, dass man sich eine möglichst schlanke Taille verschafft. Das wird dann aber auf die Lebenswelt der Menschen übertragen, indem das Wort „Gürtel“ mit einer bekannten Metapher verbunden wird, nämlich dem „Grüngürtel“ (6), der für das Wohlergehen der Menschen wichtig ist, hier aber verkleinert wird. Also ist in diesem Fall wie auch in den Versen vorher das Sich-schöner-Machen der Stadt mit etwas Negativem für die Menschen verbunden: Es gibt mehr Rauch aus immer größer werdenden Fabrikschornsteinen, statt dass Straßen und Plätze wirklich schöner werden, werden sie nur mit Reklame überdeckt. Dann gibt es noch eine dritte Ebene, wenn in Zeile 7 davon die Rede ist, dass der Gürtel „gegen Lichthunger“ enger geschnallt wird. Etwas gegen „Hunger“ zu tun, ist erst mal etwas Positives. Hier geht es aber um „Lichthunger“, also das Bedürfnis der Menschen nach Sonne und Helligkeit, wichtig für Gesundheit und Wohlbefinden. Damit wird die schon angedeutete Kritik an der Reduzierung von Grünflächen noch deutlicher.
  7. Zu Beginn der zweiten Versgruppe wird die vierte Zeile wieder aufgenommen: Wie dort „verdeckt“ wurde, ist jetzt die Rede davon, dass die Stadt „glättet“ – und zwar den „Faltenwurf“, also die nicht glatten Stellen in einem Kleidungsstück. Das wird verbunden mit dem Attribut „schwarzer Sorgen“ . Es geht also um die dunklen Dinge, die Menschen bekümmern und Angst machen.
  8. Nicht ganz leicht zu verstehen ist die 10. Zeile, die ein Ziel angibt, das von Feierabend und Mimik bestimmt wird, einem weiteren Neologismus: Gemeint ist wohl, dass die Menschen am Abend ein anderes Gesicht aufsetzen, bei dem sie zumindest kurzzeitig alles Unangenehme verstecken oder verdrängen.
  9. Ab Zeile 11 wird der Gedanke des Verdrängens fortgesetzt: Jetzt geht es um einen Fußballplatz, also ein abendliches Freizeitvergnügen, bei dem das „Flutlicht“ (12) (vergleiche das künstliche Licht der Neon-Reklamen) eine „Sternensehnsucht“ (11) gewissermaßen in einer Mini-Ausgabe erzeugt. Die Menschen denken dabei an was Großes, vielleicht die Begeisterung bei einem großen Spiel, in Wirklichkeit ist es aber sehr klein, begrenzt. Das Negative wird deutlich am Verb „stülpt“, damit verbindet man ja das „Überstülpen“, etwas wird durch etwas anderes verdeckt, hier die große Sehnsucht der Menschen durch eine kleine Ersatzfreude.
  10. In der gleichen Weise geht es weiter: Auch der „Taubenschlag“, wohl ein Hinweis auf Freizeitaktivitäten besonders der „Malocher“ im Ruhrgebiet, bringt nur einen „Stundenfrieden“ (13) – am nächsten Tag ist die harte Arbeit wieder dran – und am Ende droht vielleicht Invalidität auf Grund einer Staublunge. Den Schluss bildet dann die „Lottozahlenhoffnung“ (16), also die letzte Hoffnung vieler Menschen auf ein bisschen finanzielles Glück, bei dem verschwiegen wird, dass die Hälfte aller Einsätze vom Staat kassiert werden, was die Chancen auf Gewinn noch weiter verringert.
  1. zusammenfasst, was das Gedicht aussagt, indem du den Satz fortsetzt: „Das Gedicht zeigt …“ und dabei möglichst mehrere Aspekte berücksichtigst,
  1. Das Gedicht zeigt zunächst einmal die Probleme von Großstädten, die Luftverschmutzung, die Zerstörung von lebenswichtiger Natur, aber auch „Langeweile“, also zu wenig Möglichkeiten, sich kreativ zu betätigen.
  2. Außerdem wird deutlich, wie mit den Problemen umgegangen wird: Sie werden nicht bekämpft bzw. beseitigt oder zumindest gemindert, sondern sie werden verdeckt.
  3. Es gibt statt wirklicher Sehnsucht nur kleine Ersatzfreuden, die kurzzeitig sind und zum Teil auch nicht ganz ehrlich.
  1. deutlich machst, inwieweit an diesem Gedicht deutlich wird, dass Gedichte sehr konzentriert, zum Teil lückenhaft sind, dass sie dabei auch „verrätselt“ wirken und zudem mit vielen besonderen sprachlichen bzw. künstlerischen Mitteln arbeiten,
  2. Was die für Gedichte typische Konzentration bzw. Verdichtung angeht, so ist das hier nicht sehr extrem, weil durchaus ganze Sätze präsentiert werden.
  3. Allerdings wird viel nur angedeutet, zum Beispiel muss jeder sich selbst vorstellen, was „Risse und Narben“ konkret in diesem Zusammenhang bedeuten. Von daher gibt es inhaltlich ziemlich große Lücken.
  4. Am stärksten ist der Eindruck der Verrätselung: Das beginnt schon mit den Handlungen der personifizierten Stadt gleich am Anfang, besonders komplex ist dann die Doppelzeile am Ende der ersten Versgruppe.
  5. In der zweiten Versgruppe stellt die 10. Verszeile mit ihrer seltsamen Richtungsangabe eine ziemliche Herausforderung für das Verständnis dar. Auch Assoziationen zum Wort „Sternensehnsucht“ müssen vom Leser erst gebildet werden. Die Stelle mit dem Taubenschlag dürfte für alle schwierig sein, die dieses typische Freizeitvergnügen in Arbeitervierteln nicht kennen.
  6. Was die sprachlich-künstlerischen Mittel angeht, ist auf die vielen Neologismen schon hingewiesen worden: „Rauchhaar“ (1), „Schlothals“ (2), „Feierabendmimik“ (10), die in ihrer Kompositaform sehr gut zu dem grundsätzlichen künstlerischen Ansatz des Gedichtes passen, nämlich der Personifizierung der Stadt. Wichtig sind Schlüsselwörter wie „verdeckt“ und „glättet“, die die zentralen Aktivitäten dieser Stadtperson kennzeichnen. Syntaktisch gibt es viele Reihungen: „Sie bürstet … reckt … verdeckt … glättet … stülpt … holt.“ Natürlich wird auch mit Gegensätzen gearbeitet, besonders deutlich an der „Sternensehnsucht“ (11) im Vergleich zum „Flutlicht“ (12). Auch spielt das Licht eine große Rolle – besonders in seiner Künstlichkeit („Neontrikot“, 4), „Flutlicht, 12), das den „Lichthunger“ (7) der Menschen, der auch die Größer einer „Sternensehnsucht“ (11) annimmt, nicht stillen kann.
  7. In einem begründeten Fünf-Satz-Statement darstellst, wie du das Gedicht findest, welche Bedeutung es für dich bzw. deine Generation heute noch haben könnte und inwieweit du dir eine Aktualisierung vorstellen könntest.
  8. Ich finde das Gedicht insgesamt sehr gut gemacht und ausdrucksstark.
  9. Sehr gut gefällt mir erst mal die Idee, die zunehmende Industrialisierung der Stadt mit der Idee der Verschönerung zu verbinden.
  10. Konsequent erscheint dann, das als Verdeckung der wirklichen Verhältnisse zu kritisieren.
  11. Sehr gelungen erscheint mir auch die Aufzählung und zugleich Entlarvung von Ersatzbefriedigungen.
  12. Was mir fehlt, ist ein ein Farbtupfer im Einerlei des Unschönen und Falschen: Das vermittelt dann stark den Eindruck, Literatur müsse vor allem negativ kritisch sein. Gerade die Andeutungen in Richtung Arbeitswelt hätten es doch möglich machen müssen, auch auf das einzugehen, was zum Beispiel das Ruhrgebiet selbst in seinen umweltbezogen schlimmsten Zeiten zu einem liebenswerten Heimat-Ort gemacht hat. Hier wird der „Taubenschlag“ eindeutig zu sehr auf „Stundenfrieden“ reduziert.

Druckvorlage

Mat128Interpretation zu Wohlgemuth Industriestadt sonntags abends komplett

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