5-Minuten-Tipp zu Alfred Lichtenstein, „Mädchen“ (Mat4524)

Im Folgenden geben wir kurz ein paar Tipps zu einem Gedicht, indem ein expressionistischer Autor sich über junge Frauen äußert, die auf Liebe aus sind und dabei von sehr problematischen Hoffnungen geleitet werden.

Alfred Lichtenstein

Mädchen

Sie halten den Abend der Stuben nicht aus.
Sie schleichen in tiefe Sternstraßen hinaus.
Wie weich ist die Welt im Laternenwind!
Wie seltsam summend das Leben zerrinnt…

  • Strophe 1: Entscheidend ist ihre Sehnsucht nach dem Verlassen der „Stuben“ (1) als Ort der Häuslichkeit im weitesten Sinne.
  • Die zweite Zeile macht die Heimlichkeit, das Nächtliche deutlich – mit tendenziell transzendenten Hoffnung-Elementen.
  • Die beiden letzten Zeilen machen die Gefühle der Mädchen deutlich, für sie steht „weich“, „seltsam“ und „summend“ im Vordergrund – mit einem Schuss Vergänglichkeit („das Leben zerrinnt“)

Sie laufen an Gärten und Häusern vorbei,
Als ob ganz fern ein Leuchten sei,
Und sehen jeden lüsternen Mann
Wie einen süßen Herrn Heiland an.

  • Strophe 2: Paralleler Ansatz, allerdings ist die nächste Stufe erreicht, die Mädchen haben sich von den sicheren Orten entfernt;
  • Betonung des „als ob“ ihrer Hoffnungen in der zweiten Verszeile
  • Dann der Einbruch der grausamen Realität: jeden „lüsternen Mann“ sehen sie als „einen süßen Herrn Heiland an“. Damit ist zumindest die Gefahr eines Teil-Untergangs gegeben, nämlich ihrer Unschuld im Denken der Zeit der Entstehung des Gedichts.
  • Intentionalität:
    • Das Gedicht zeigt den Lebenshunger und die Hoffnungen junger Menschen angesichts der Schönheit der Welt und der begrenzten Lebenszeit.
    • Es macht aber auch deutlich, dass sie Illusionen folgen und zu deren Opfer werden.
  • Unterstützung der Intentionalität durch sprachlich-künstlerische Mittel
    • Anaphora in 1,1+2 sowie I,3+4, zugleich Parallelisierung = zeigt Intensität der Lebenslust
    • „Sternstraßen“ = Metapher für Hoffnungen und Erwartungen
    • Reduktion der Anaphora und Parallelismen in der zweiten Strophe auf nur noch ein Element, dafür Betonung des Scheins in dem „als ob“-Vergleichssatz
    • „ein Leuchten“ = Metapher für das totale Lebensglück, passt motivmäßig zu den „Sternstraßen“
    • Zuspitzung auf den maximalen Gegensatz von Hoffnung und Realität
    • Steigerung der Anfangs-Distanz bis hin zu Zynismus am Ende
  • Literaturgeschichtlichen  Einordnung in die Epoche des Expressionismus
    • Distanzierte Sicht auf eine Menschengruppe und ihre Nöte;
    • Andeutung von Brüchigkeit durch Wörter wie „schleichen“ und „Laternenwind“
    • sowie die „als ob“-Konstruktion in II,2, Höhepunkt der negativen Sicht im sarkastischen, fast zynischen Schluss.
  • Kritisch-Kreative Möglichkeiten
    • Natürlich kann man diese einseitige Sicht auf junge Frauen kritisieren,
    • am besten aber dadurch, dass man ein Gegengedicht schreibt, das sich einem „lüsternen Mann“ zuwendet und ihn auf ähnliche oder auch andere Art und Weise zum Opfer seiner falschen Vorstellungen werden lässt.

Wer noch mehr möchte …