Wie prüft man ein Gedicht, ob man es analysieren will? Beispiel: Tadeusz Dąbrowski, „Ich habe meinen Augenblick verpasst“ (Mat4495)

Worum es geht …

Im Folgenden gehen wir von der Situation aus, dass eine Lehrkraft den Schülern nur vorgibt, auf welcher Seite sie ein Gedicht auswählen können. Dann sollen sie es analysieren. Vorteil des Verfahrens ist, dass man auf diese Art und Weise viele aktuelle Gedichte kennenlernt, wenn die dann vorgestellt werden.

In diesem Fall geht es um die Seite:
https://www.lyrikline.org/de/startseite/

Und das Gedicht mit dem Titel „Ich habe meinen Augenblick verpasst“ erscheint interessand, kommt also in die engere Auswahl. Glücklicherweise liegt es in einer deutschen Übersetzung von Andre Rudolph vor:

https://www.lyrikline.org/de/gedichte/przegapilem-swoj-moment-6211

Die zwei Fragen, die uns hier interessieren:

Wenn man vor der Frage steht, nehmen oder nicht: hat man eigentlich zwei Fragen zu beantworten:

  1. Kann man das Gedicht analysieren? Manche Gedichte überfordern einen einfach oder sind so individuell oder hermetisch (verschlossen), dass man sich besser nicht an sie heranwagt.
  2. Und wenn ja:
    Lohnt es sich, das Gedicht zu analysieren?
    Hat es genügend Aussagepotenzial – und: Interessiert man sich selbst dafür. Denn die Arbeit an diesem Gedicht ist ja freiwillig. Man könnte auch ein anderes nehmen.

Auswertung der Überschrift

„Ich habe meinen Augenblick verpasst“

  • in der Überschrift berichtet das lyrische Ich von einer Situation und einer Erfahrung, die es gerade gemacht hat:
    • Es geht offensichtlich darum, dass es einen besonderen Moment irgendwie an sich hat vorbeistreichen lassen.
    • Im Nachhinein deutet sich jetzt das Gefühl an, dass da mehr möglich gewesen wäre.
  • Interessant wird, wie das lyrische Ich damit umgeht: zum Beispiel ärgerlich oder auch fatalistisch.
    [Interessant ist es immer, auf zwei Ebenen zu denken: Zum einen das Gedicht verstehen in dem, was es sagt. Dann aber auch die sogenannte „Lesersteuerung“ ernstnehmen, d.h. sich weiterführende Gedanken machen, bevor man weiterliest. Erst dann merkt man so richtig, was vielleicht unerwartet abgeht.]
  • Fazit: Die Überschrift ist auf jeden Fall verständlich und geht auch auf etwas Wichtiges im menschlichen Leben ein.

Auswertung von Strophe 1

Von
„Wie soll man ihn auch nicht verpassen“
bis
„Wenn man sieht,“

  • In der ersten Strophe gibt das lyrische Ich Begründungen an, warum so etwas passieren kann, dass man einen oder sogar den besonderen Moment seines Lebens verpasst.
  • Es folgen zwei Gegebenheiten, bei denen man prüfen müsste, wieso sie zum Verpassen eines wichtigen Augenblicks führen:
    • Was die Zeitung im Internet angeht, könnte gemeint sein, dass man so viel mit den Zukunftsbeschreibungen anderer beschäftigt ist, dass man eigene Überlegungen zur Zukunft verpasst. Denn wenn das lyrische Ich seinen Augenblick genutzt hätte, wäre sein Leben ja anders verlaufen.
    • Der Hinweis auf die Songs geht möglicherweise in die Richtung, dass man zu viel auf eine Art und Weise unterhalten wird, die sich höher stellt, als sie wirklich ist.

Auswertung von Strophe 2

Von:
„wie der Tsunami
bis
„um dann am Tag faul“

  • In der zweiten Strophe geht es dann um große Ereignisse der letzten Jahre.
  • Gemeint sein könnte damit, dass in den Medien ständig über so etwas berichtet wird, auch in Wiederholungen.
  • Und auch das hindert einen anscheinend, das für einen selbst Wichtige zu erkennen und zu nutzen.

Auswertung von Strophe 3

Von
„wieder einzustürzen
bis
„einer konservativen,“

  • In einem weiteren Schritt wird als weiterer Grund für die Nicht-Nutzung eines besonderen Augenblicks die Vielfalt anderer Meinungen genannt, wie man sie zum Beispiel in Zeitungen vorfindet.
  • Zwischenfazit:
    [Auch so etwas ist wichtig, dass man beim Lesen schon überlegt, was das Gedicht anscheinend insgesamt aussagen will.]
    Es verfestigt sich immer mehr der Eindruck, dass dieses Gedicht die Informations- und Interpretationsflut kritisiert, die von außen kommt und der man eben zu wenig entgegensetzt an eigener Meinung und Einsicht.
  • Interessant ist natürlich der kleine Gag am Ende, dass von einer Zeitung sogar ohne Text die Rede ist. Möglicherweise bezieht sich das auf bestimmte Zeitungen, die mehr oder weniger nur Bilder bringen und auf diese Art und Weise nur auf vordergründige Emotionen setzen, ohne wirklich etwas zu sagen zu haben.

Auswertung von Strophe 4

Von
„einer liberalen
bis
„Wann, wo?“

  • Der Schlussteil des Gedichtes enthält eine Art auswertender Zusammenfassung.
  • Die Idee mit dem Konto soll wohl deutlich machen, dass es eben ungenutzte Minuten gibt, die einfach auf die Zukunft verschoben werden. Das ist eigentlich nichts anderes als eine Verallgemeinerung der Überschrift.
  • Am Ende ist das lyrische Ich so verwirrt, dass es zwar das Gefühl hat, seinen Augenblick verpasst zu haben. Aber es weiß nicht mal mehr, wann und wo das passiert ist. So sehr ist es abgelenkt durch andere Dinge.

Auswertung von Strophe 5

Von
„Oder vielleicht hat er
bis
„Und wartet.“

  • Der Schluss klingt dann zunächst sehr negativ, weil angedeutet wird, dass dieser besondere Moment verschwunden ist und damit erst mal unerreichbar wird.
  • Die Schlusszeile macht dann wieder etwas Hoffnung.
  • Deutlich wird aber auch, dass man jetzt aktiv werden muss.
  • Konkret heißt das wohl:
    • eine Zurückdrängung all dessen, was von außen und von anderen auf einen einstürmt.
    • Und sich auf das konzentrieren, was einem selbst weiter bringt.
    • Das wiederum heißt zunächst mal nichts anderes, als dass man die Augen aufmacht und alles prüft, inwieweit es in gewisser Weise auf einen gewartet hat
  • Vorläufiges Fazit: ein wunderbares Gedicht, das man sogar auf den Sinn des Lebens beziehen kann, den jeder für sich finden muss.

Wer noch mehr möchte …