Anders Tivag, „Die Grenzen der künstlichen Intelligenz“ – Kurzgeschichte (Mat4392)

Anders Tivag,

Die Grenzen der künstlichen Intelligenz

Es war furchtbar. In der letzten Stunde vor der Klausur hatten sie ein Gedicht bekommen mit dem Hinweis: So was in der Art könne drankommen.

Jetzt brütete er schon zwei Stunden über dem Text, der irgendwie keinen Zusammenhang ergab – jedenfalls erkannte er ihn nicht.

Schließlich gab er es auf, nahm den Zettel und ging zum Arbeitszimmer seines Vaters rüber. Der war Chefprogrammierer bei einer großen Softwarefirma und die stand kurz vor der Fertigstellung eines Programms, mit dem man Gedichte „knacken“ konnte. Das war natürlich nicht der richtige Ausdruck. Dr. Engler, sein Deutschlehrer, hätte den nie durchgehen lassen. Aber es hatte schon ein paarmal sehr gut funktioniert. Er hatte dann einfach seinem Vater das Gedicht gegeben – und das Programm hatte wirklich was ausgespuckt, womit man was anfangen konnte. Das Witzige war: Wenn man einmal eingegeben hatte, worauf es bei der Gedichtanalyse ankam und dem Rechner dann genügend Futter, sprich: Gedichte gab – dazu eine anständige Rückmeldung – dann wurde das Programm von Mal zu Mal besser. So war das eben mit der künstlichen Intelligenz, die konnte sogar lernen und das in einer unglaublichen Geschwindigkeit.

Als er das Zimmer seines Vaters betrat, war der nicht da. Da fiel ihm ein, dass er kurz vorher gehört hatte, wie die Haustür ins Schloss gefallen war und der Sportwagen einmal kurz aufheulte – das war zwar nicht gut für den Motor, aber anscheinend wohl für das Gemüt des gestressten Vaters.

Soweit so schlecht – Vater nicht da – aber was war das? Der Bildschirm des Rechners zeigte nicht den Sperrbildschirm, sondern nur ein Hintergrundbild, das aber so ähnlich aussah. Sollte sein Vater beim schnellen Rausstürzen die Tastenkombination verwechselt haben? Dann nichts wie ran. Denn sein Vater konnte auch ziemlich sperrig sein. Schon vor ein paar Tagen hatte er gesagt: In der Klausur hätte er kein KI-System zur Verfügung, deshalb solle er die letzten Tage davor für eigene Übungen – ohne fremde Hilfe – nutzen.

Aber das spielte jetzt keine Rolle – Er setzte sich an den Rechner – und tatsächlich das KI-Programm ließ sich starten. Nun kam das Entscheidende: Konnte man einen neuen Benutzer anlegen, den er auch von seinem eigenen Notebook aus nutzen konnte. Tatsächlich – in 5 Minuten war das erledigt – jetzt noch schnell den Sperrbildschirm einschalten und rüber in sein Zimmer.

Er hatte Glück – mit der Benutzerkennung konnte er ins Firmensystem rein und dort das Programm starten. Der Rest war eine Kleinigkeit: Er ließ das Gedicht einlesen, beantwortete noch ein paar Fragen und nach zwei Minuten erschien eine Analyse auf dem Bildschirm, mit der er weiterarbeiten konnte. Noch ein paar sprachliche Abrundungen – vor allem bei den Überleitungen zwischen den einzelnen Punkten der Checkliste – und dann musste er das Ganze nur noch abschreiben – Dr. Engler stand nicht auf digitale Lösungen – und er selbst wollte auch keinen falschen Eindruck erwecken.

Schon wollte er das Programm schließen – da sah er, dass es oben einen neuen Menüpunkt gab: „Nächste Arbeit“. Sein Vater hatte mal drüber gesprochen, dass sie das KI-System nutzen wollten, um aus den besprochenen Gedichten und einigen anderen Hinweisen mögliche Klausuraufgaben herauszurechnen. Vor Aufregung fing er an zu zittern. Sein Vater war noch nicht wieder zurückgekommen – also einfach mal ausprobieren. Bei einigen Fragen des Systems musste er ganz schön nachdenken – aber schließlich hatte er die behandelten Gedichte eingegeben und auch einige Hinweise des Lehrers. Jetzt dauerte es doch etwas länger, schließlich ging es um die Abwägung von Wahrscheinlichkeiten.

Und dann, er mochte es nicht glauben. Wer weiß, welche Informationsquellen der Rechner alles genutzt hatte – wahrscheinlich hatte er alle in Frage kommenden Gedichte geprüft – und jetzt standen drei mögliche Aufgaben auf dem Bildschirm – und eine hatte sogar eine Wahrscheinlich von mehr als 60%. Er freute sich schon auf morgen. Da konnte er zumindest seiner Freundin Tanja und vielleicht noch zwei, drei Freunden den Tipp geben. Die würden staunen – da überfiel es ihn eiskalt. Wenn das aber rauskam, dann würde sein Vater noch ganz anders staunen.

Jetzt hätte er sich eine KI gewünscht, die mehr konnte als nur Daten zu Gedichten auszuwerten.

Gespräch mit dem Autor

Wir hatten Gelegenheit, dem Autor ein paar Fragen zu stellen, und bekamen auch Antworten 😉

  • F: Herr Tivag, Sie sind ja bekannt dafür, keiner kreativen Herausforderung auszuweichen. Wie ist denn diese Geschichte entstanden?
    • T: Nun, wir haben das Thema „Künstliche Intelligenz“ im Deutschunterricht behandelt und auch den Film „Her“ gesehen. Und dann haben einige Schüler gemurrt, dass es hier ja gar nicht um sie geht. Was ihnen denn die KI bringen könnte.
    • Und da war es um mich geschehen 😉
  • F: Und dann ging alles ganz leicht?
    • Keineswegs. Ich hatte zwar die Idee, Unterrichtsfragen durch die KI beantworten zu lassen – sicher ein Traum für jeden Schüler.
    • Aber das musste ich natürlich ein bisschen eingrenzen – und da kamen mir die Gedichte gerade recht – denn die machen Schülern ja das stärkste Kopfzerbrechen.
    • Und dann brauchte ich nur noch einen Anbieter von Mitteln gegen diese Kopfschmerzen – und da ich mich viel mit IT-Firmen und Softwareentwicklung beschäftigt habe, lag diese Lösung über den Vater nahe.
  • F: Das scheint ja alles ganz leicht gewesen zu sein. Gab es auch Probleme?
    • T: Am schwierigsten war es, an den Rechner des Vaters zu kommen. Aber dann hatte ich die Idee, ihn aus irgendeinem Grunde ganz schnell aus dem Haus stürzen zu lassen – und dann kann schon mal ein Rechner ungesichert stehenbleiben 😉
    • T: Dann musste ich noch irgendwie begründen, dass der Vater den Sohn erst mit den Gedichten an seinen Rechner lässt und später nicht. Aber dieser Vater weiß natürlich, was für seinen Sohn gut ist – aber er weiß anscheinend nicht, wie gut er ist 😉
  • F: Und wie sind Sie auf diesen Schluss gekommen?
    • T: Nun ja, ich brauchte einen Konflikt, über dessen Lösung man am Ende nachdenken kann – und damit hat man dann auch gleich ein offenes Ende – wie wird der Junge sich entscheiden: Für schnelles Wow!!! Für den Tipp mit der Klausur. Oder doch lieber: „Der kluge Mann genießt seinen Vorteil – und schweigt“ – , um die Quelle nicht zu verstopfen. Vielleicht findet er ja noch unproblematischere Lösungen, die anderen an seinem Wissen teilhaben zu lassen.
  • F:  Wo wäre denn das Problem?
    • T:  Nun ja, je mehr Leute etwas wissen, desto eher macht es die Runde. Und das erreicht dann irgendwann den Vater – und dann gibt es richtig Ärger.
  • F: Aber irgendwann kommt diese KI-Software doch auf den Markt.
    • T: Aber dann wissen alle Bescheid und können sich darauf einstellen. Vor allem sind Vater und Sohn aus einer möglichen Schusslinie.
  • F: Letzte Frage: Ist das nicht viel mehr Arbeit, selbst Kurzgeschichten zu schreiben, als sie aus dem Buch zu holen?
    • Es macht aber auch Spaß – und bevor ich tagelang suche, schreibe ich lieber selbst einen Text – natürlich unter einem Pseudonym, um die Schüler nicht in eine blöde Situation zu bringen.
    • Und es hat den großen Vorteil: Wenn man weiß, wie Geschichten geschrieben werden, kann man bei den Schülern viel mehr Verständnis für Literatur erreichen – als nur Buchwissen abzuarbeiten.
    • Vor allem macht man ihnen Mut, es selbst mal zu probieren – und kann ihnen dann auch helfen, wenn sie Anregungen brauchen.
  • F: O, danke für das offene Gespräch – dann sind wir mal gespannt, welchen Text Sie als nächstes vermissen und dann brühwarm aus dem eigenen Kochtopf im Unterricht besprechen können.

 Wer noch mehr möchte …