Anders Tivag, „Unausgewogen“ – oder: Was heißt eigentlich Toleranz?

Zu dieser Kurzgeschichte

Die folgende Kurzgeschichte ist sicher ungewöhnlich. Sie hat zwar einen direkten Einstieg und auch ein einigermaßen offenes Ende. Aber sie besteht eigentlich nur aus Gedanken und einigen eingestreuten Informationen. Aber sehr schön deutlich wird, was Toleranz eigentlich heißt, nämlich „dulden“ – und das hängt mit „leiden“ zusammen. Hinzu kommt aber, dass man sich entschieden hat, nicht mehr aufzubegehren, sondern es zu akzeptieren. Damit wird ein möglicher Wendepunkt im Fühlen, Denken und Verhalten zumindest angedeutet.

Die Geschichte

Anders Tivag

Unausgewogen

Es war erstaunlich gut gelaufen. Sie hatte spontan angerufen und dann hatten sie sich ausgetauscht, als wären da nicht 40 Jahre gewesen, in denen jeder seine eigenen Wege gegangen war. Natürlich war man nicht in allen Punkten einer Meinung gewesen – aber das war ja das Wesen des Austauschs. Wobei der Begriff eigentlich die Sache nicht trifft. Man spricht über das, was man selbst denkt – und der andere hört sich das an – und vielleicht denkt er auch über das eine oder andere noch ein bisschen nach. Aber zu einem Austausch – wie bei Geschenken – kommt es nur äußerst selten.

Jedenfalls hatte er ein gutes Gefühl gehabt, als sie sich aus dem Gespräch verabschiedeten. Er hatte dann noch, wie es seine Art war, eine Mail nachgeschickt. Dass er sich über das Gespräch sehr gefreut habe, dass er es gerne auch fortsetzen würde. Vor allem ein paar Fragen hätte er gerne noch geklärt. Er hatte sie auch genannt. Außerdem hatte er nach der Telefonnummer gefragt, das hatte er nämlich im Gespräch vergessen. Also beste Voraussetzungen zumindest für eine kurze Antwort. Aber sie kam nicht. Schon stand man vor der alten Frage aller selbstbewussten Menschen: Sollte man dem anderen hinterherlaufen? Was war, wenn sie die Mail gar nicht bekommen oder zumindest nicht gesehen hatte. Nun ja, dann würde sich zumindest zeigen, ob ihr selbst der neu aufgenommene Kontakt ein weiteres Gespräch wert war oder zumindest eine Mail. Er hatte es zu oft erlebt, dass er sich selbst voll in solch eine Begegnung – oder besser Wieder-Begegnung – hineingegeben hatte – und dann dieses erbärmliche Gefühl, dass es unausgewogen war oder wurde. Warum konnten andere nicht genauso entgegenkommend oder noch besser: zuvorkommend sein. Diese beiden Wörter gefielen ihm sehr. Er mochte Menschen, die die berühmte Extra-Meile gingen, wie man so sagt. Aber dann fiel ihm Sandra ein, die war jede Menge Meilen dieser Art auf ihn zugegangen und es war ihm lästig geworden.Und er hatte dann alles getan, damit sie das irgendwie begriff, ohne zu sehr verletzt zu sein. Einen Moment hatte er das Gefühl gehabt, dass diese Erinnerung ihm helfen würde, die aktuelle Situation für sich gut zu regeln. Dann merkte er, dass er an der gleichen Stelle stand wie zuvor. Nur dass er jetzt mehr Verständnis für sie hatte, die jetzt nicht so schnell geantwortet hatte, wie er sich das gewünscht hätte.

Was man diskutieren könnte:

  1. Wie kommt es, dass manche Menschen überhaupt keine Probleme mit einem Gespräch nach einer langen Zeit der Trennung haben. Auf jeden Fall darf am Anfang nicht der Kommunikationskiller fallen: „Du hast dich aber auch lange nicht gemeldet.“
  2. Wie kommt es, dass so ein Gespräch gut läuft und eigentlich nach einer Fortsetzung verlangt, aber die andere Seite reagiert nicht – zumindest nicht so schnell, wie die eine Seite es sich wünscht.
  3. Muss es zwischen Menschen, die sich gut verstehen und sich auch etwas bedeuten, so etwas wie „Ausgewogenheit“ geben?
  4. Was kann man tun, wenn man die Sorge hat, die letzte Mail sei vielleicht tatsächlich übersehen worden?
  5. Was kann man tun, wenn sich später herausstellt, dass man sich immer wieder mal kurz und engagiert austauscht und dann wieder lange Phasen kommen, in denen es zu keinem Austausch kommt oder der nach kurzem Hin und Her wieder einschläft.

Wer noch mehr möchte …