Anders Tivag, „Warum sich Schriftsteller aus der Politik raushalten sollten?“ (Mat5177)

Worum es hier geht:

Im Folgenden präsentieren wir einen Sachtext, der sich mit der Frage des Verhältnisses von Literatur und Politik beschäftigt.

Zur Vorbereitung auf das schriftliche Abitur im Fach Deutsch haben wir den Text mit Aufgaben versehen und werden auch Tipps zur Lösung bieten.

Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den Text von Anders Tivag, indem Sie
    1. den Argumentationsgang vorstellen
    2. zusammenfassend die Position herausarbeiten
    3. zeigen, mit welchen sprachlichen und rhetorischen Mitteln die Position unterstützt wird.
  2. Nehmen Sie kritisch Stellung zur Position des Verfassers und prüfen Sie, inwieweit sie im Hinblick auf die Lektüre eines im Unterricht besprochenen Werkes gerechtfertigt erscheint.

Anders Tivag,

Warum sich Schriftsteller aus der Politik raushalten sollten?

Schriftsteller werden immer noch mit einer gewissen Aura gesehen. Es gibt auch kaum ein schöneres Gefühl, als ein Buch mit dem eigenen Verfassernamen in einer Buchhandlung vorzufinden.

Wir müssen zugeben, wir haben unser erstes Buch damals sogar auf der Hutablage hinten im Auto (so was gab es damals – auch ohne Hut) einige Zeit spazierengefahren.

Dabei war das sogar ein Sachbuch – und so etwas lässt sich wirklich leichter schreiben als ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte – vom Roman ganz zu schweigen.

Wenden wir uns also den wirklichen Schriftstellern zu, die einsam nachts vor ihrem Laptop sitzend die schönsten Fantasien auf den Bildschirm zaubern. Wenn es gut läuft, sind sie wie alle Künstler von einer großen Idee angetrieben, die einfach nur an die Welt will. Wenn es schlecht läuft, hat man in einem ersten Roman fast alles verarbeitet, was einen gequält oder auch entzückt hat – und nun möchte der Verlag einen zweiten haben.

Was hat das mit der Frage der Politik zu tun – erst mal nichts – oder scheinbar nichts. Aber es macht deutlich, was die sogenannte „schöngeistige“ Literatur eigentlich ausmacht, nämlich eine Kombination aus großen Gefühlen und Einsamkeit. Dazu kommt in der Regel noch ein sehr spezieller, ganz persönlicher Blick auf die Welt.

Man sieht dann manches klarer, aber eben auch vergrößert und mit relativ geringem Kontakt zu den Erfahrungswelten anderer.

An die gerät man zum Beispiel, indem man sich in ein Café setzt, in dem die zum Thema passenden Leute verkehren, und alles aufschnappt und im Idealfall auch notiert, was man mitbekommt.

Und da haben wir schon mal das Problem: Schriftsteller sind besondere Menschen, sonst würden sie sich nicht mit der mühsamen Erstellung von Texten rumquälen, die hinterher dem Licht einer nicht immer wohlgenonnenen Kritik ausgesetzt sind.

Sie haben zum Teil einen intensiveren Blick auf bestimmte Ausschnitte der Wirklichkeit, verfallen aber wie alle Spezialisten der Welt schnell dem Irrtum, ihre Sicht für eine „Übersicht“ zu halten und ihr alles andere unterzuordnen.

Nun sind wir immer noch irgendwie nicht beim Thema – oder doch? Die Lösung liegt im Wort „Spezialist“ – jeder von uns ist so etwas, eben etwas Einmaliges an einem einmaligen Ort mit einmaligen Erfahrungen, Wünschen usw.

Der einzige Unterschied zwischen einem Normalmenschen und einem Schriftsteller besteht darin, dass dieser mehr oder weniger ein Sprachkünstler ist und Gedanken auf originelle Art und Weise einkleiden kann.

Nun wird jemand einwenden: Aber ein Schriftsteller hat doch einen tieferen oder auch weiteren Blick – sorry, dann haben wir uns hier nicht genügend verständlich gemacht. Das Schriftstellerische hat erst mal nichts der Politik zu tun. Wer da professionell tätig ist, hat deswegen nicht mehr Ahnung von Politik als ein Informatiker oder ein Arzt. Vielleicht weiß der sogar mehr von den Menschen und der Welt, denn er hat täglich mit denen zu tun, für die das Leben mehr oder weniger zum Ernstfall wird – und die Schutzbleche der Normalität nicht mehr funktionieren.

Aber der Schriftsteller kann sich doch intensiv mit Politik beschäftigen – nur was macht ihn dadurch kundiger, als es bei allen anderen Menschen auch durch Interesse und Engagement geschehen kann.

Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen dem Schriftsteller und den meisten anderen Berufen: Das, was er berufsmäßig mitteilt, wird potenziell von vielen Menschen wahrgenommen. Früher hat man an dieser Stelle eingefügt: Damit ist dann aber auch eine gewisse Verantwortung verbunden.

Nur: Gilt das nicht für jeden der modernen Publisher auch und natürlich auch die, die „irgendwas mit Medien“ machen.

Und wie sieht es heute mit der Verantwortung aus, wenn man jederzeit in den sozialen Netzwerken einem Shitstorm zum Opfer fallen kann? Und andererseits: Erreichen die Schlagzeilen der großen Medien nicht viel mehr Leute als ein Schriftsteller in einem Offenen Brief oder bei einem Leseabend in einer Buchhandlung?

Langer Rede kurzer Sinn: Wir schlagen vor, dass die Schriftsteller ihre politische Meinung gar nicht kundtun – zumindest nicht als Schriftsteller. Natürlich können sie das wie der Augenarzt Dr. Meier und die Informatikerin Gabi Müller jederzeit und überall tun – nur ohne den anmaßenden Hinweis auf den Beruf oder die Berufung.

Dazu kommt, dass ein guter Schriftsteller und natürlich auch eine gute Schriftstellerin nicht mit einer fertigen Aussage anfangen sollte zu schreiben. Denn zur Kreativität beim Schreiben gehört auch, dass man Figuren und Situationen sich entwickeln und auswachsen lässt.

Das allein schon sollte Schriftsteller davon abhalten, in dieser Funktion an die Öffentlichkeit zu gehen. Man stelle sich nur vor: In ihrem Vortrag zu Energie-, Steuer- oder auch Erziehungsfragen wachsen ihnen die Gedanken über den Ausgangskopf und am Ende sind sie mit ihrem Publikum erstaunt, was da rausgekommen ist.

In solche Situationen begibt man sich doch lieber nachts am Laptop, wo man von Vorversion zu Vorversion vor sich hindichten kann.

Quelle:

Anders Tivag, „Warum sich Schriftsteller aus der Politik raushalten sollten?“ (Mat5177)


abgerufen am 15.4.23

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