Anders Tivag, „Wenigstens etwas“ – Eine Kurzgeschichte zum Mutmachen (Mat4291)

Die folgende Kurzgeschichte zeigt, was in bestimmten Situationen möglich ist, wenn man spontan etwas wagt.

Anders Tivag

Wenigstens etwas

Er war wieder eine Stunde früher aufgestanden. Wie häufig in den letzten Tagen. Kurz einen Kaffee reinziehen und sich dann an den Schreibtisch setzen, in den Garten schauen und überlegen, was in seinem Kopf rumflog und was sich daraus machen ließ.

Dann hatte er es. Am besten war es immer, von der aktuellen Situation auszugehen. Die Gedanken flogen dann wie von selbst aufs Papier.

Es würde wirklich ein besonderer Tag werden. Er hatte tatsächlich den Lyrikpreis seiner Heimatstadt bekommen. Gleich würde in den Bus steigen und sich überlegen, was für eine Rede er halten sollte. Er vertraute immer auf seine Spontaneinfälle. Und hier war die Sache eigentlich klar. Er erinnerte sich noch gut an den Tag, an dem er beschloss, das Schreiben einfach mal zu probieren.

Sie hatten wieder eine dieser Deutschstunden gehabt, in denen Gedichte behandelt wurden. Behandeln – ein wirklich schönes Wort – direkt aus der Arztpraxis. Wirklich, sie fühlten sich manchmal wie einem Arzt ausgesetzt, der etwas bei ihnen behandelte, was sie selbst gar nicht fühlten.

Irgendwann riss ihm der Geduldsfaden und er meldet sich mit den Worten: “Dieses Gedicht von diesem Friedrich Rückert ist doch einfach nur negativ.  Was haben wir mit jemandem zu tun, der am Ende seines Lebens feststellt: War alles nichts. Soll uns das Mut machen?“

Als sein Deutschlehrer ihn ziemlich irritiert anschaute, dachte er: Schieb was Positives nach, sonst gibt es Ärger:

“Wir könnten doch einfach mal unsere Meinung dagegensetzen. Kreativ sein – wird uns doch immer vorgeschlagen.“

Bei den Mitschülern entstand ein Gemurmel, er glaubte Zustimmung in ihren Gesichtern zu lesen.

Kreativität war durchaus auch anstrengend, aber man musste nicht endlos einen Text zerlegen, nach irgendwas suchen, sondern konnte auf ihn reagieren.

Aus seinen Gedanken wurde er aufgeschreckt durch die ironische Bemerkung des Lehrers: “Gute Idee, mach es doch einfach.”

Dann ging alles blitzschnell: Er schnappte sich sein Heft und einen Stift und sagte beim Rausgehen: “Mach ich, aber dafür brauche ich Ruhe, ich bin gleich wieder da.“

In der Mensa dauerte es keine 15 Minuten, dann hatte er das, was ihn an dem Gedicht störte, in eine ganz brauchbare Form gebracht. Am besten gefiel ihm die direkte Anrede: „Ach, Friedrich, lass das Jammern sein.“

Als er den Kursraum wieder betrat, waren alle dabei, die geforderte Analyse zu schreiben.

Er gab seinem Lehrer den Zettel mit seiner kreativen Lösung, der schaute kurz rein und meinte dann: “Ja, nicht schlecht. Aber jetzt setz dich mal an die Analyse, denn wir haben nur noch eine  Deutschstunde bis zur Klausur.”

Das war es dann. In der Pause hatten ihm einige Mitschüler anerkennend auf die Schulter geklopft und Jan hatte gesagt “Du warst ganz schön mutig.”

Aber dabei blieb es dann auch. Die meisten wollten einfach nur schnell raus und sein manchmal etwas sonderbares Verhalten fanden die andern auch ein bisschen “spinnert”, wie sie sagten. Sie wollten einfach nicht aus dem gewohnten Alltag raus.

Die Schule war ein festes System und Veränderungen waren einfach nur anstrengend.

Er selbst war bei diesem Lehrer nie wieder auf das Thema zurückgekommen, hatte dafür zunächst für sich selbst geschrieben, dann es auch anderen gezeigt und einer hatte Verbindung zu einem Autoren-Stammtisch vor Ort, der einmal im Jahr zusammen mit der lokalen Zeitung einen Wettbewerb organisierte.

Und jetzt war es soweit. Er würde den Preis entgegennehmen und dann genau diese Geschichte erzählen.

Das einzige, was für ihn noch offen war: Sollte er seinem alten Deutschlehrer vielleicht die Zeitungsmeldung hinterher zuschicken. Er war ja kurz nach dieser denkwürdigen Stunde in eine andere Stadt versetzt worden. Da würde er ihn sicherlich finden und ihm schreiben können.

Aber sollte er? Immerhin hatte der Mann ja wenigstens etwas für ihn getan.

Erweiterter Schluss

Aus der Küche rief seine Mutter: „Junge, komm runter. Es wird knapp, wenn du die Schule noch erreichen willst. Ihr schreibt doch heute eine Klausur oder?

Gespräch mit dem Autor über die Kurzgeschichte

Anmerkungen des Autors, verraten in  einem kurzen Gespräch mit einem Vertreter der Schülerzeitung in der Freistunde

Herr Tivag, warum diese Kurzgeschichte?

  • Es gab nicht wirklich einen speziellen Anlass. Ich versuche ja ganz gerne mal, Schülern Tipps zu geben, was die Interpretation von schwierigen Texten angeht. Und dabei stoße ich immer häufiger auf Gedichte zum Beispiel, denen ich ganz gerne was hinzufügen und manchmal auch was entgegensetzen würde.
  • Und bei diesem Gedicht von Rückert fand ich die Haltung so einseitig negativ, dass ich einfach dachte, dazu musst du ein Gegengedicht schreiben.
  • Das hab ich dann auch getan. Aber dann dachte ich, eine Kurzgeschichte wäre doch auch mal wieder ganz schön.

Warum gerade eine Kurzgeschichte?

  • Diese Geschichten behandeln ja einen besonderen Moment im Leben von einem oder auch mehreren Menschen.
  • Und ich wollte jetzt einfach mal dieses Problem, dass im Deutschunterricht zu viel analysiert und zu wenig kreativ geschrieben wird, in so einem besonderen Moment verarbeiten.

Was ist denn das Besondere an dem Moment dieser Kurzgeschichte?

  • Es geht darum, dass zumindest ein Schüler keine Lust mehr hat, etwas zu machen, dessen Sinn er nicht ganz einsieht. Er merkt, dass in ihm alles nach Protest schreit – stattdessen soll er Zeile für Zeile sich in das Gedicht versenken.
  • Dieser Protest – das wäre schon mal die erste Besonderheit.
  • Die zweite ist dann das Verhalten des Lehrers: Der reagiert erst mal ironisch, gibt dem Schüler dann aber die Chance, seinen Frust in Aktivität zu verwandeln. Bedauerlicherweise wird aber erst mal nichts draus, eine mögliche Chance für einen etwas anderen Unterricht wird vertan.

Was ist denn mit den Mitschülern?

  • Ach, da habe ich meine Erfahrung verarbeitet, dass die meisten Menschen sehr zurückhaltend sind, wenn andere Leute Ideen äußern.
  • Denn das Gewohnte mag zwar unangenehm sein, es ist aber weniger anstrengend, als sich etwas Neuem auszusetzen.
  • Vielleicht hat dieser Kurs gerade mit diesem Schüler auch unangenehme Erfahrungen gemacht. Dann ist die Furcht noch größer, dass da Stress draus wird.
  • Aber wenigstens haben sie ihm auf die Schulter geklopft – und einer hat ihn ja auch gelobt.

Noch eine kurze Frage: Was hat es mit dem erweiterten Schluss auf sich?

  • Ach, ich habe lange überlegt, in welcher Situation diese Geschichte spielt.
  • Erst wollte ich gleich den erweiterten Schluss – aber das ist vielleicht zu kompliziert. Der bedeutet nämlich, dass dieser Schüler gar nicht den Preis bekommt, sondern sich das in einer Geschichte nur vorstellt – anschließend muss er noch ganz normal zu seiner Klausur.
  • Aber wie gesagt: Das ist eine sehr komplizierte, aber auch reizvolle Situation. Es wird nämlich deutlich, dass man sich durch Fantasie vom Druck der Wirklichkeit zumindest kurzzeitig entfernen kann. Und wenn sich in der Realität nicht mehr erreichen lässt, dann wenigstens in der Fantasie. Es ist gewissermaßen eine kleine Utopie.
  • Es könnte aber auch sein, dass er diese Geschichte später seinem Lehrer einfach mal gibt – vielleicht mit einem Pseudonym.

Was würden Sie sich jetzt bei Ihren Lesern wünschen, wenn sie diese Kurzgeschichte zu Gesicht bekommen?

  • Vielleicht denken sie darüber nach, welche besonderen Momente es auch in ihrem Leben gibt, in denen sie die gewohnte Routine verlassen und was Neues ausprobieren könnten.
  • In diesem Falle hätte der Lehrer zumindest das im Unterricht einbeziehen können, was der Schüler geschrieben hatte.
  • Dann hätte sich ja schnell gezeigt, ob da Potenzial drin lag.
  • Denn natürlich muss man am Ende an die Vorgaben der Regierung für den Deutschunterricht zurückkehren. Aber es wäre doch spannend gewesen, mal auszuprobieren, ob das Kreative nicht auch oder sogar besser zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Text führt. Und das kann dann ja auch für die Analyse gut sein.

Danke, Herr Tivag Ihre Freistunde ist auch ziemlich vorbei. Wir danken Ihnen auf jeden Fall, dass Sie sich die Zeit genommen habe.

  • Für mich war es auch schön, mal über einen Text sprechen zu können. Das bringt einen auch als Autor weiter. Und wenn ihr das in der Schülerzeitung veröffentlicht – vielleicht macht es dem einen oder anderen auch Mut. Nur so entsteht Neues.

Weiterführende Hinweise