Anmerkungen zum Gedicht „Herbstzeitlosen“ von Hilde Domin

Hier geht es um ein Gedicht, das die Leser am Ende vielleicht erst mal unzufrieden zurücklässt – aber das kann man gerade als Herausforderung begreifen, die es so nur in der Literatur gibt.

Hier die Erklärung als mp3-Datei:

Überschrift: Herbstzeitlosen

  • Die meisten Leser werden nicht sofort wissen, um was es sich hier handelt.
  • Wenn man sich kurz informiert, werden zwei Besonderheiten deutlich, nämlich die Blütezeit vom Sommer bis in den Herbst und dann vor allen Dingen eine enorme Giftigkeit.
  • Man ist also dann gespannt, was mit diesen Blumen im Gedicht verbunden wird.

 

Anmerkungen zu Strophe 1

  • Die erste Strophe beschreibt einen Verlust, der anscheinend mit Zerstörung verbunden ist.
  • Betroffen davon ist nicht nur ein Teil des Hauses, in dem man gelebt hat, sondern auch eine gewisse Erinnerung an die eigene Kindheit und Entwicklung, die damit verbunden gewesen sind.

Anmerkungen zu Strophe 2

  • Der in der ersten Strophe bereits vorgenommene Hinweis auf eine besondere Gruppe von Menschen, für die das Gesagte gilt, wird in der zweiten Strophe erweitert.
  • Dort geht es nicht mehr um einen von außen bewirkten Verlust, sondern um etwas, was man selbst offensichtlich versäumt hat.
  • Es geht um einen Baum und einen Garten und die Notwendigkeit, so etwas dort eventuell auch erst mal pflanzen zu müssen.
  • Erst dann erlebt man seinen wachsenden Schatten, also das, was im Sommer einem gut tut und parallel zur eigenen Entwicklung verläuft.
  • Darauf scheint es dem lyrischen Ich anzukommen: In der ersten Strophe ging es einfach um das Festhalten der Jahre. Gemeint ist wahrscheinlich das auf dem Pfosten markierte Wachstum des Kindes.
  • In der zweiten Strophe wird der Gedanke des Wachstums noch einmal aufgenommen und mit einer Schutzfunktion verbunden.

Anmerkungen zu Strophe 3

  • Die dritte Strophe beschreibt nicht mehr die Vergangenheit, sondern einen Moment der Gegenwart.
  • Die Gruppe, der das lyrische Ich sich zugehörig fühlt, hat offensichtlich keine Heimat mehr und auch keine Aufgabe.
  • So ist sie aufgerufen, sich selbst etwas zu suchen. Und in diesem Falle ist es ein Hügel und die Vorstellung, man arbeite dort als Hirte.
  • Das Fiktive, nur Vorgestellte, wird dann am Ende der Strophe noch einen Schritt weitergeführt:
    Jetzt geht es nicht mehr nur um eine fiktive Vorstellung von sich selbst, sondern auch das, was behütet werden soll, sind Wolken, also luftige, sehr vergängliche und vor allem unzugängliche Gebilde.

Anmerkungen zu Strophe 4

  • In dieser Strophe geht das lyrische Ich noch genauer und zugleich allgemeiner auf die Situation seiner Gruppe ein.
  • Deutlich wird, dass es um das ganze Leben geht. Und herangezogen wird ein Bild aus der Raumfahrt, das wohl die Länge und vielleicht sogar die Unendlichkeit dieser Reise deutlich machen soll.
    Hier spielt natürlich die Entstehungszeit des Gedichtes eine wichtige Rolle: Es ist veröffentlicht worden im Band „Doppelinterpretationen“ (1966) – also noch vor der Mondlandung.
  • Am Ende gibt es noch einen wichtigen Hinweis, nämlich auf das Ziel der Suche. Das ist nämlich gar kein Ort, sondern die Sehnsucht nach Veränderung, nach Neuem.
  • Das wird nicht näher ausgeführt. Der Leser ist damit darauf verwiesen, sich selbst etwas Passendes auszudenken.

Anmerkungen zu Strophe 5

  • Diese Strophe erklärt dann auch den Titel. Es geht darum, was denen an Freuden bleibt, die sich in der Situation des lyrischen Ichs befinden.
  • Es geht ganz eindeutig um schöne Dinge: Die Herbstzeitlosen sorgen als Blumen für schöne Farben, und Brombeeren und Hagebutten machen den Wald nicht nur auch noch schöner, sondern präsentieren auch noch etwas Nahrhaftes.

Anmerkungen zu Strophe 6

  • Die letzte Strophe ist sicherlich die wichtigste und stellt dabei einen Zusammenhang her zwischen den im Titel genannten Blumen und dem lyrischen Ich und seiner Gruppe.
  • Allerdings ist auf den ersten Blick nicht recht nachvollziehbar, wieso diese schönen Dinge in der Natur den Menschen helfen sollen, ihr eigenes Gesicht zu lesen.
  • Noch fremdartiger ist dann der Schluss. Denn dort geht es nur allgemein um eine Ankunft. Es wird  aber nicht gesagt, wer oder was da ankommt.
  • Dazu kommt, dass mit dem Verb „sich entblößen“ nicht unbedingt positive Assoziationen geweckt werden.

Zusammenfassung

  • Damit wird der Schluss des Gedichtes zu einer Provokation gegenüber den Lesern.
  • Und es ist einfach die Frage, ob man sich auf diese weiten Spielräume des Verständnisses einlassen will.
  • Das wird man eher tun, wenn man nicht davon ausgeht, dass ein Gedicht eine klare Aussage enthalten muss, die man nur noch entschlüsseln muss. Sondern Gedichte können auch einfach wie Songs in der Musik Anregungen sein, die Gefühle und eigene Gedanken auslösen.
  • In diesem Falle könnte man das Gedicht so verstehen, dass es den Übergang von Verlust-Erfahrung zur Wahrnehmung von neuen schönen Dingen deutlich macht.
  • Das würde dann bedeuten, dass der neue Beginn, von dem weiter oben die Rede war, hier zumindest bereits ansatzweise erreicht wird
  • Und die erst mal etwas verstörende Vorstellung von sich entblößen würde dann positiv aufgelöst im Sinne von: sich von alten Dingen befreien und auf Neues, ganz Natürliches einlassen. Das wäre dann nicht mehr durch Normen und Vorgaben eingekleidet und damit auch begrenzt.
  • Interessant und hilfreich ist dabei sicher die Vorstellung, dass diese Veränderung genauso von selbst kommen kann, wie in der Natur die Herbstzeitlosen eine Zeit lang verschwinden und dann wieder blühen.

Weiterführende Hinweise