Brechts „Episches Theater“ – leicht verständlich erklärt (Mat550)

Brecht versuchte, sich von der gesamten abendländischen Theatergeschichte zu lösen, die vor allem auf „Illusion“ setzte – mit der entsprechenden Wirkung. So schuf er etwas, was die Grenzen zwischen den Grundgattungen der Literatur sprengt, nämlich sein „Episches Theater“. Wir zeigen, was es damit auf sich hat.

Weiter unten auch ein Video – mit Begleitmaterial.

  1. Brechts episches Theater verbindet zwei eigentlich verschiedene Grundarten der Literatur.
  2. Das Drama wird auf einer Bühne durch Schauspieler in Szene gesetzt, dabei gibt es eigentlich keinen Erzähler, der für das Epische zuständig ist und deshalb zum Beispiel in einem Roman eine große Rolle spielen kann.
  3. Brecht führt aber genau solche erzählenden , vor allem kommentierenden Elemente ein, weil er den Haupteffekt des Dramatischen, nämlich dass Sich-hinein-Fühlen in das Bühnengeschehen, nicht haben möchte.
  4. Brecht sagt ganz ausdrücklich, dass er gegen das alte Illusionstheater ist, wie wir es heute noch aus guten Filmen kennen, die uns innerlich mitreißen.
  5. Exkurs: Dieses Theater, das den Zuschauer mitreißen will – bis hin zur „Katharsis“, einer Art Reinigung seiner Leidenschaften, gibt es seit dem alten Griechen Aristoteles. Der hat Jahrhunderte lang das Theatergeschehen bestimmt. Vor allem Schiller erhoffte sich von der Bühne eine moralisierende Wirkung auf die Zuschauer.
  6. Genau das möchte er nicht, er möchte einen bewussten, nachdenklichen Zuschauer.
    „Der Zuschauer des dramatischen Theaters sagt: Ja, das habe ich auch schon gefühlt. ‑ So bin ich. ‑ Das ist nur natürlich. ‑ Das wird immer so sein. ‑ Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es keinen Ausweg für ihn gibt. ‑ Das ist große Kunst: das ist alles selbstverständlich. ‑ Ich weine mit den Weinenden, ich lache mit den Lachenden.
    Der Zuschauer des epischen Theaters sagt: Das hätte ich nicht gedacht. ‑ So darf man es nicht machen. ‑ Das ist höchst auffällig, fast nicht zu glauben. ‑ Das muss aufhören. ‑ Das Leid dieses Menschen erschüttert mich, weil es doch einen Ausweg für ihn gäbe. ‑ Das ist große Kunst: da ist nichts selbstverständlich. ‑ Ich lache über den Weinenden, ich weine über die Lachenden.“
    Brecht, Über eine nichtaristotelische Dramatik, in: ders., Schriften zum Theater 3, Frankfurt/M. 1963
  7. Den erreicht er für sich dadurch, dass zum Beispiel hinter den Schauspielern auf der Bühne noch andere Leute laufen, die zum Beispiel Spruchtafeln hochhalten, die das Gegenteil von dem aussagen, was gerade auf der Bühne läuft.
    Brecht nennt das „Verfremdung“ bzw. „V-Effekt“.
  8. Dramatisch wäre dann zum Beispiel die Rede eines Firmenchefs, der seinen Arbeitern verspricht, sie seien eine große Familie.
  9. Im Hintergrund werden im Kontrast dazu die realen Entlassungszahlen eingeblendet.
  10. Das ist der Kern des epischen Theater, das man auch deshalb als „Lehrtheater“ bezeichnet. Die Leute sollen nicht innerlich mitgehen, sondern sie sollen sich eine kritische Meinung bilden.
  11. Kritische Anschlussfrage: Ist nicht das sogenannte „Regietheater“ eine spezielle Fortsetzung des „Epischen Theater“: Auch dort wird durch allerlei Regieeinfälle die „Illusion“, das „Sich-einfach-im-Theaterstück-Verlieren“ des Zuschauers verhindert oder zumindest erschwert. Fraglich ist nur, ob es hier darum geht, dass der Zuschauer die Probleme erkennt und dann eigene Lösungen findet – oder ob er er nicht doch die individuelle, subjektive Sicht des Regisseurs aufgedrückt bekommt.
    Noch weiter gehen die Kritiker, die darauf hinweisen, dass bestimmte „Regie-Einfälle“ nur noch dazu dienen, Aufsehen zu erregen.
    Dazu ein Beispiel hier.

Gute Zitate, die Brechts Theorie des „Epischen Theaters“ verdeutlichen, gibt es hier.

Kleine Ergänzung:

Ursprünge von Brechts Theaterkonzeption in der Welt des Sports und der Kriminalromane
Die Zitate aus: Position 550ff in der E-Book-Ausgabe von Reinhold Jaretzky, Bertolt Brecht, rororo monographie

Es ist erstaunlich, was hier als Quellen der Idee des epischen Theaters angedeutet wird – und wie sehr diese auch fragwürdig werden.

  • „In Berlin gerät er in den Sog der Sportwettkämpfe, die er zu einer Art zeitgemäßem Theater überhöht. In den Ringkämpfen erfahre das Publikum jenes Vergnügen, das in den Theatern abhandengekommen sei.“
  • „Ausgehend vom Sportpublikum entwickelt Brecht die Vision von einem Theaterpublikum, das die Bühnenereignisse wie das Sportpublikum kühl beobachtet, ohne sich von Leidenschaften hinreißen zulassen.“
  • „Dass allerdings gerade der Sport mit hohen Emotionen und Suggestionen verbunden ist, beachtet er nicht …“
  • „Ebenso wie sportliche Massenveranstaltungen das Theater inspirieren sollen, sieht Brecht als neuen Maßstab für die hohe Literatur ihre triviale Variante: den Kriminalroman. Auch hier sei der Rezipient mit den Regeln bestens vertraut: Wenn Sie einen Kriminalroman aufschneiden, dann wissen Sie genau, was Sie wollen.“

Das Video ist zu finden unter:
Videolink

https://youtu.be/37RDQh_YpSk

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Begleitmaterial zum Video
Mat550 VidBegBlatt Episches Theater
PDF-Dokument [4.8 MB]

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