Anmerkungen zu der Kurzgeschichte „Kritik“ von Daniel Kehlmann (Mat4399)

Anmerkungen zu der Kurzgeschichte „Kritik“ von Daniel Kehlmann

Abgedruckt u.a. in „Deutschbuch 9“ Ausgabe NRW, S. 130-133 und 359/360

Im Folgenden geht es um einen erzählenden Text, den man durchaus als Kurzgeschichte verstehen kann, wie wir noch sehen werden.

  1. Thema der Geschichte [erst nach der Lektüre einfügen, wenn man die Geschichte verstanden hat!!!]


  2. Unsere Deutungshypothese: „Die Geschichte zeigt auf extreme Art und Weise, wie weit man die Kombination von scheinbarer Höflichkeit und realer Frechheit in der Kommunikation treiben kann.“
  3. Die Geschichte beginnt mit dem Versuch eines Passagiers, seine Flugangst einigermaßen unter Kontrolle zu bringen, bis man sich nach dem Start in der Normalflugphase befindet.
  4. Bald muss der Passagier, der vom Erzähler „Wagenbach“ genannt wird, aber feststellen, dass noch viel größere Herausforderungen auf ihn warten – und zwar in Gestalt seines Sitznachbarn, der ihn als relative Berühmtheit identifiziert. Wagenbach ist Schauspieler und moderiert eine Musiksendung.
  5. Der Angesprochene versucht sich aus der Affäre zu ziehen, indem er dem Mann ein Autogramm anbietet, muss dann aber feststellen, dass der überhaupt keines haben will, sondern ihn in für ziemlich unfähig in seinem Metier handelt.
  6. Das Besondere an dieser doch ziemlich satirisch, also übertrieben wirkenden Geschichte ist, dass sich die negativen Bemerkungen immer mehr steigern, zwischendurch aber durch Ansätze von Rückkehr zur Höflichkeit in Form von Entschuldigungen unterbrochen werden.
  7. Dahinter steckt aber nicht viel – es wird vielmehr immer schlimmer bis hin zum Vorwurf, „verdammte Raffgier“ zu zeigen, wenn man wie Wagenbach im Bereich von Kultur und Medien arbeitet.
  8. Ergänzt werden die Probleme des armen Schauspielers und Moderators noch dadurch, dass seine Flugangst zurückkehrt, als sich die Maschine schließlich dem Boden zuneigt. Dass sie bereits im Landeanflug ist, hat Wagenbach nicht mitbekommen. Vergeblich versucht er, noch einen Kaffee von der Stewardess zu bekommen – auch der missratene Hinweis auf seine Bekanntheit hilft ihm nicht.
  9. Die seltsame Kommunikation endet damit, dass der Nachbar sogar davon spricht, er sei „unbegabt wie ein Stein“ und sogar „zu blöd, um seinen Text zu lernen!“
  10. Spätestens hier fragt sich der Leser, wie realistisch die Situation ist. Für eine Satire mag das noch durchgehen – aber mehr ist auch nicht drin.
  11. In einem Lesebuch endet der Text an der Stelle, an der die Stewardeß von einer tollen Landung spricht.
  12. An dieser Stelle könnte sie auch – und das wäre die Fortsetzung – sagen: „Toll, auch wie sie all die Frechheiten ertragen haben. Wir würden gerne ein Interview mit ihnen machen und Sie als Passagier des Monats in unserem Journal präsentieren. Schauen Sie mal, da unten steht bereits das Aufnahmeteam.“
  13. Und dann könnte sich herausstellen, dass es ein Fall von „versteckte Kamera“ ist.
  14. Was den Kurzgeschichten-Charakter angehet,
    1. Es gibt einen direkten Einstieg.
    2. Die Handlung konzentriert sich auf einen besonderen Moment im Leben dieses Schauspielers und Moderators.
    3. Einen Wendepunkt könnte es geben, wenn Wagenbach klar wird, dass er jetzt eigentlich alles erdulden kann – nach diesem Erlebnis. Nur müsste und sollte er demnächst sich früher einen Kaffee bringen lassen.
    4. Damit hätte man auch eine mögliche Füllung des an sich offenen Schlusses.
    5. Natürlich könnte Wagenbach jetzt auch darüber nachdenken, ob er für solche Zuschauer überhaupt noch auftreten soll. Das wäre aber sicher eine sehr negative Lösung – wir ziehen die andere vor.
  15. Was den „echten“ Schluss angeht, kann er nicht überzeugen:
    1. Er beginnt gut damit, dass sich der Passagier noch mal aufdrängt, dabei aber auf seine eigene Flugangst hinweist, die ihn zu einem solch extremen Verhalten veranlasst.
    2. Hier könnte man wunderbar auf das Tourette-Syndrom kommen
    3. und am Ende könnten sich zwei Menschen mit ihren Schwächen gegenseitig stärken, vielleicht sogar Freunde werden.
    4. Stattdessen bringt der Mann zwar einige positive Einschätzungen, die aber dann sofort wieder eingeschränkt werden.
    5. Wagenbach ruft dann im Hotel seinen Agenten an und entschließt sich aus Gründen, die nicht mitgeteilt werden, dazu, die nächste Veranstaltung möglichst abzusagen.
    6. Parallel wird der Blick auf ein Kind gelenkt, das draußen unbeholfen Fußball spielt und ihn hilflos anschaut. Außerdem fährt noch ein Taxi vor und jemand steigt aus. Warum Wagenbach sich schnell abwendet, erfährt man nicht.
    7. Wir sind der Meinung, dass ein Schriftsteller den Lesern mehr bieten sollte als diese seltsamen Andeutungen am Schluss. Wenn man schon möchte, dass der Leser sich zu eigenen Ideen für die weitere Entwicklung aufschwingt, sollte man ihm nicht solche Bruchstücke am Ende vor die Füße werfen, die mehr belasten als beflügeln.

 Wer noch mehr möchte …