Detlev von Liliencron, „In einer großen Stadt“

Detlev von Liliencron

In einer großen Stadt

  • Die Überschrift beschreibt nur einen Ort, der wohl nur für etwas steht, aber selbst keine Bedeutung hat.
  • Jedenfalls wird bei dieser Stadt kein Name angegeben.

 

Es treibt vorüber mir im Meer der Stadt

Bald der, bald jener, einer nach dem andern.

Ein Blick ins Auge, und vorüber schon.

Der Orgeldreher dreht sein Lied.

  • Schon die erste Zeile der ersten Strophe setzt deutliche Akzente:
  • Die Stadt wird als ein Meer gesehen, in dem etwas vorübertreibt. Auch hier wieder keine genauere Angabe zunächst, worum es sich handelt.
  • Damit wird auch hier das Grundmotiv der Anonymität aufgenommen und weitergeführt.
  • Die zweite Zeile versucht dann etwas genauer zu sein, aber auch hier kein Ansatz von Individualisierung, sondern nur ansatzweise ein Hinweis darauf, dass es sich wohl um Menschen handelt, die in diesem Meer vorüberströmen.
  • Immerhin kommt es zu einem kurzen Kontakt, man schaut sich an, daraus wird aber nichts. Man spricht sich nicht an und interessiert sich anscheinend auch nicht weiter für das jeweilige Gegenüber.
  • Die Schlusszeile hebt dann zumindest eine Berufsgruppe hervor, nämlich die an Straßen früher häufig zu findenden Drehorgel-Spieler. Aber in diesem Zusammenhang geht es auch nicht um Musik, sondern wohl nur um die Verwirklichung der Wendung: „immer das gleiche Lied“.

 

Es tropft vorüber mir ins Meer des Nichts

Bald der, bald jener, einer nach dem andern.

Ein Blick auf seinen Sarg, vorüber schon.

Der Orgeldreher dreht sein Lied.

  • Die zweite Strophe beginnt dann mit einer doppelten Verkleinerung: Es geht nur noch um einzelne Tropfen und dann als vorläufiger Tiefpunkt der Bedeutungslosigkeit das „Meer des Nichts“.
  • Die zweite Zeile listet zumindest die sich präsentierende Bewegung auf  – wie in der ersten Strophe.
  • Die dritte Zeile überträgt dann den Gedanken des Nichts auf den Menschen. Was vorher zumindest noch einen Blick ermöglicht hat, liegt jetzt in einem Sarg  – damit das sichtbare Zeichen für das Ende eines Lebens, das wohl nirgendwo Anklang gefunden hat.
  • Die letzte Zeile bringt dann wieder den so schon bekannten kurzen Refrain.

Es schwimmt ein Leichenzug im Meer der Stadt.

Querweg die Menschen, einer nach dem andern.

Ein Blick auf meinen Sarg, vorüber schon.

Der Orgeldreher dreht sein Lied.

  • Alles wird zu Beginn dieser Strophe zusammengefasst. Die ganze Stadt ist eigentlich nichts anderes als der Ort eines großen Leichenzuges.
  • Interessant dann der Hinweis auf Menschen. Es geht also nicht nur um einen langen Zug von Särgen, sondern die werden offensichtlich begleitet von Menschen. Man kann sich des Eindrucks aber nicht erwehren, dass die sich nur in einer Art Vorstufe zur späteren Sargexistenz befinden.
  • Am Ende dann die Übertragung all dessen, was gesagt worden ist, auf das lyrische Ich selbst. Offensichtlich kann es zwar beobachten und sich Gedanken machen, fühlt sich aber eigentlich schon in der gleichen Situation wie all die Menschen, die es vorher beschrieben hat.

Aussage des Gedichtes (Intentionalität)

Das Gedicht präsentiert insgesamt eine sehr begrenzte, einseitige Sicht auf das Leben der Menschen in einer Stadt. Es ist wohl eher davon auszugehen, dass hier Gefühle eines Subjekts auf ein Objekt übertragen werden, das es in der Form real gar nicht gibt. Das ist – unabhängig von der realen Entstehungszeit des Gedichtes – schon typisch für die Zeit des Expressionismus. Es geht nicht einmal ansatzweise um Realität, sondern um Subjektivität, die dann durch eine fiktive Wirklichkeit sichtbar beziehungsweise nachvollziehbar gemacht werden soll.

Im Vergleich zu typischen Gedichten des Expressionismus werden hier aber große, existenzielle Zusammenhänge angesprochen, zunächst einmal die Vergänglichkeit menschlichen Lebens. Das wird ergänzt eher durch Trauer als durch heftige Kritik an der Tatsache, dass es nicht zu echter Kommunikation zwischen den Menschen kommt. Sie leben eigentlich nur auf den Tod hin.

Kreative Anregung

Man kann hierzu gut ein Gegengedicht schreiben, das mit der Aufforderung beginnt:
„Ach Detlef, mach doch nur die Augen auf.“
Und dann könnte man beschreiben, wie eine Stadt wirklich aussieht, sicher mit all ihren Problemen, aber auch mit Ansätzen von Versuchen, sie menschlich zu gestalten.

Weiterführende Hinweise