Deutungshypothese: Beispiel: Christian Morgenstern, Oktobersturm (Mat1291)

Die Frage nach der Deutungshypothese bei der Analyse von Gedichten
Ein Begriff, der im Rahmen einer Gedichtanalyse häufig auftaucht, ist die sogenannte Deutungshypothese.

Dabei handelt es sich um einen ersten Versuch, zu formulieren, was das Gedicht eigentlich aussagen soll.
Wenn man den Begriff noch weiterfasst, dann könnte damit auch schon eine Interpretationhypothese gemeint sein:
Zum Unterschied:
Analyse = das, was sich für alle überprüfbar aus dem Gedicht herausholen lässt.
Interpretation = das, worauf man das Gedicht und seine Aussage beziehen kann.

Beispiel für die Ermittlung einer Deutungshypothese am Beispiel von Morgenstern, „Oktobersturm“
Probieren wir das mal am Beispiel eines Gedichtes aus:

Voraussetzung für die Deutungshypothese ist, dass man das Gedicht und seine Aussage einigermaßen verstanden hat.

Christian Morgenstern

Oktobersturm
•    Die Überschrift macht deutlich, worum es geht, nämlich ein Naturereignis, wie es für den Oktober typisch ist.
•    Man vermutet als Leser, dass es dabei möglicherweise zu Schäden kommen könnte.

Schwankende Bäume
im Abendrot –
•    Als erstes verweist das Lyrische Ich auf Bäume, die unter der Einwirkung des Sturms schwanken.
•    Das Abendrot macht deutlich, dass es hier eine Zwischensituation gibt zwischen Ansätzen von gutem Wetter und eben diesem Sturm.
•    Als Leser gewinnt man den Eindruck, dieser Gegensatz könnte im Folgenden eine Rolle spielen.
Lebenssturmträume
vor purpurnem Tod –
•    Hier lässt sich das Lyrische Ich (und die Leser damit mit) von der besonderen Natursituation dazu anregen, über das Leben nachzudenken.
•    Es ist nicht ganz klar, wie die drei Wortbestandteile von „Lebenssturmträume“ zu gewichten sind.
•    Da am Ende eines Kompositums immer das Grundwort steht, geht es hier also primär um „Träume“, die mit dem „Lebenssturm“ verbunden sind.
•    Auch hier haben wir wieder die Spannung zwischen dem Problematischen, nämlich dem Sturm als Bestandteil des Lebens, und den Träumen, die in der Regel mit Positivem, zum Beispiel mit Träumen verbunden sind.
•    Dann kommt in der letzten Zeile die Vebindung der Farbe Rot mit Tod und zwar in der Edelvariante des Purpurs.
•    Das Lyrische Ich denkt also an das Schöne im Leben, das bedroht ist und am Ende dem Tod gegenübersteht.
•    Möglicherweise wird die Farbe hier eher mit Brand und Weltuntergang verbunden, wie es im Expressionismus häuf gemacht wurde. Das würde die Interpretation des „Abendrots“ am Anfang ins Negative verändern.

Blättergeplauder –
wirbelnder Hauf – –
•    Zu Beginn dieser Strophe wird es etwas ruhiger, denn sonst würden die Blätter in der Vorstellung des Lyrischen Ichs nicht miteinander plaudern.
•    Das verändert sich dann auch ins Negative, denn man kann nicht plaudern, wenn man in einem Haufen durcheinander gewirbelt wird.
nachtkalte Schauder
rauschen herauf.
•    Am Ende geht es nicht mehr um den Sturm, sondern das, was er hinterlässt, nämlich Nacht, Kälte und Schauer.
•    Damit wird deutlich, in welche Richtung sich die Gefühle des Lyrischen Ichs entwickelt haben – das ist von Angst vor dem „Tod“ nicht weit entfernt.
•    Der Schluss macht dann deutlich, dass da etwas auf das Lyrische Ich herankommt – eben etwas sehr Unangenehmes, vielleicht sogar Gefährliches.

Deutungshypothese(n):
Das Schöne an einer Hypothese ist, dass sie nicht endgültig sein muss – man auch Varianten formulieren kann.
Versuchen wir es mal:
1.    Das Gedicht zeigt, wie ein Wetterphänomen die Stimmung beeinflussen kann.
2.    Es zeigt außerdem eine Grundspannung, die das ganze Leben (Sturm, Träume) durchzieht und in dieser Situation besonders akut wird.
3.    Präsentiert wird am Ende eine offene Situation, bei der man nicht weiß, ob der Schauder das letzte Wort in diesem Gedicht haben muss.

Von daher wäre es sehr reizvoll, hier eine Anschluss-Strophe zu verfassen – auf der Basis des eigenen Verständnisses des Gedichtes und der eigenen Lebensauffassung.
Abschließende Überlegung:
Je nachdem, welche Erwartungen man an eine Deutungshypothese hat, kann man die Varianten am Ende noch einmal überprüfen und vielleicht zu einer zusammenziehen:
Das Gedicht zeigt ausgehend von einem Wetterphänomen eine Grundspannung des Lebens, die am Ende in einem „Schauder“, also eher negativ, endet.
 

 Wer noch mehr möchte …