Worum es hier geht
Beispiel für die Analyse einer Dramenszene – am Beispiel von Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“, S. 102-105
(Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Taschenbuchausgabe des Diogenes-Verlages)
Das Besondere ist hier, dass es sich um einen Textausschnitt (TA) handelt.
Dementsprechend klärt man zunächst die Voraussetzungen, also den Stand, den der Konflikt zu Beginn der Szene erreicht hat. Wichtig ist dabei, nicht einfach eine Art Inhaltsangabe zu verfassen, sondern wirklich vom Konflikt auszugehen. Wir probieren das hier im Hinblick auf die Seiten 102-105 mal aus: |
[Klärung der Voraussetzung, der Momente, die die Szene(n) bestimmen]
Ausgangspunkt des Konflikts ist die Armut einer Stadt und der Plan der Rache einer Milliardärin, die 1 Milliarde bietet, wenn jemand ihren ehemaligen Geliebten Alfred Ill umbringt, der sie in ihrer Jugend verraten hat.
Die anfängliche Solidarität der Mitbürger bröckelt schnell, was man zum einen daran erkennen kann, das alle sich Dinge kaufen, die sie sich gar nicht leisten können, weil sie damit rechnen, dass sie das Geld bekommen. Zum anderen bekommt Ill keine Hilfe, weder vom Polizisten noch vom Bürgermeister noch vom Pfarrer. Dieser bricht allerdings aus der Front der Verharmloser und Lügner insofern aus, als er Ill zumindest zur Flucht rät.
Diese scheitert dann allerdings, wobei offen bleibt, ob das am Widerstand der Mitbürger liegt oder an der Unentschlossenheit Ills.
Als einziger Bürger der Stadt bemüht sich der Lehrer (anfangs zusammen mit dem Arzt), etwas für den Bedrohten zu tun. Die Idee, der Milliardärin Teile der Stadt zu verkaufen, scheitert allerdings daran, dass ihr alles schon gehört. Daraufhin will der Lehrer die Mitbürger zumindest aufrütteln, daran wird er von diesen allerdings sehr massiv gehindert, womit man vor allem verhindern will, dass die inzwischen in der Stadt recherchierenden Journalisten die Wahrheit erfahren. Interessant ist, dass der in dieser Situation hinzu kommende Ill von sich aus den Lehrer bittet zu schweigen.
Genau an dieser Stelle beginnt der zu analysierende Teil des Dramas, wobei der Leser beziehungsweise Zuschauer erwartet, jetzt etwas über die Beweggründe Ills zu erfahren, die ihn zum Verzicht auf Verteidigung bewegt haben.
[Analyse der Entwicklung des Konflikts im Textausschnitt]
Was die Analyse des eigentlichen Textausschnitts angeht, ist es immer sinnvoll, dem Leser gleich schon einen Überblick zu verschaffen. In diesem Fall könnte man darauf hinweisen, dass es insgesamt sechs Schritte in der dramatischen Entwicklung innerhalb dieser Szene gibt.
[Schritt 1:]
Es beginnt damit, dass der Lehrer Selbstkritik äußert: „Was sind wir für Menschen. Die schändliche Milliarden brennt in unseren Herzen.“ (102,15f)
Das ergänzt er durch einen Aufruf an Ill: „Reißen Sie sich zusammen, kämpfen Sie um Ihr Leben, setzen Sie sich mit der Presse in Verbindung, Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren.“ (102,16-19)
Was auffällt, ist, dass der Lehrer sehr allgemein bleibt und in keiner Weise auf seine eben gemachten negativen Erfahrungen mit der Presse eingeht. Man hat den Eindruck dass dieser Ratschlag nicht wirklich hilfreich wäre, wenn Ill darauf eingehen wollte.
[Schritt 2:]
Das tut dieser aber gar nicht, indem er im zweiten Schritt der Entwicklung des Konflikts ganz deutlich erklärt: „Ich kämpfe nicht mehr.“ (102,20) Im folgenden führt er das dann weiter aus: „Ich sah ein, dass ich kein Recht mehr habe […] Ich bin schließlich schuld daran. […] Ich habe Clara zu dem gemacht, was sie ist und nicht zu dem, was ich bin […] Was soll ich tun, Lehrer von Güllen? Den Unschuldigen spielen? Alles ist meine Tat, die Eunuchen, der Butler, der Sarg, die Milliarde. Ich kann mir nicht mehr helfen und auch euch nicht mehr.“ (102,23-103,3) Interessant ist hier der Schluss, denn er macht deutlich, dass es in diesem Drama gar nicht nur um Ill als Opfer geht – betroffen sind auch die Bürger, an denen sich die alte Dame offensichtlich auch rächen will, wenn auch auf eine andere, sehr viel subtilere Weise.
[Schritt 3:]
Im dritten Schritt stimmt der Lehrer in zu und äußert sich jetzt auch sehr offen: „Man wird Sie töten. […] Die Versuchung ist zu groß und unsere Armut zu bitter […] Auch ich werde mitmachen. Ich fühle, wie ich langsam zu einem Mörder werde.“ (103,12-17)
Statt bei der furchtbaren Versuchung zu bleiben, die die eigentliche Strafe der alten Dame an allen Bürgern der Stadt ist, geht der Lehrer noch weiter in die Zukunft: „Noch weiß ich, dass auch zu uns einmal eine alte Dame kommen wird, eines Tages, und das dann mit uns geschehen wird, was nun mit Ihnen geschieht.“ (103,20-22) Hier deutet sich im Stück selbst bereits an, dass es gar nicht nur um diesen einen konkreten Fall geht, sondern um ein Phänomen, das zum menschlichen Leben grundsätzlich als Gefahr gehört.
Am Ende macht der Lehrer deutlich, das seine Lösung des Problems darin besteht, dass er sich betrinkt und dann alles vergisst. Es ist bezeichnend, dass er am Ende noch nach einer weiteren Flasche Steinhäger verlangt und sie – wie alle anderen – auch aufschreiben lässt. Damit hat er sich endgültig in die Reihe der anderen eingereiht, die Ills Tod brauchen, um ihre Ausgaben zu bezahlen.
[Schritt 4:]
Der vierte Schritt beginnt dann auf Seite 104 und spielt sich wieder im familiären Rahmen ab. Gleich am Anfang wird deutlich, dass sich für Ill neben all dem Schrecklichen auch alte Wünsche erfüllen: „Alles neu. Modern wie dies jetzt bei uns aussieht. Sauber, appetitlich. So ein Laden war immer mein Traum.“ (104,4-6).
[Schritt 5:]
Im Folgenden beschäftigt er sich mit der Situation seiner Tochter und seines Sohns und stellt jeweils heraus, was sich bei Ihnen positiv verändert hat. Dass sie ihn ursprünglich belogen haben, scheint für ihn keine Rolle zu spielen.
Abgrundtief unehrlich ist die Reaktion der Ehefrau. Sie erklärt ihren Ehemann rundweg für „hysterisch. Deine Furcht ist einfach lächerlich. Es ist doch klar, dass sich die Sache friedlich arrangiert, ohne dass dir auch nur ein Haar gekrümmt wird. Klärchen geht nicht aufs Ganze, ich kenne es, da hat es ein zu gutes Herz.“ (105, 1-5) Bezeichnend ist, dass Tochter und Sohn dieser realitätsfernen Einschätzung zustimmen.
[Schritt 6:]
Ill geht auf diese Dinge gar nicht ein, sondern bleibt auf der Ebene seiner Wünsche: „Ich möchte mit deinem Wagen fahren, Karl, ein einziges Mal. Mit unserem Wagen.“ (105,11-13) Interessant ist hier, wie sehr er zwei Dinge auf einmal betont, einmal die letzte Chance die er hat, was den Gedanken an seinen Tod einschließt, an dem ja auch die Familie nicht ganz unschuldig ist. Zum anderen ist da die Betonung der Gemeinsamkeit und die positive Einstellung zu dem, was mit seinem Tod auch verbunden ist, nämlich ein besseres Leben für die Bewohner des Ortes. Ills Toleranz geht am Ende soweit, dass er seine Frau sogar ermuntert, den neuen Pelzmantel anzuziehen, während er sich auf die wahrscheinlich gut gefüllte Kasse konzentriert. Dort ist zwar noch nicht viel Bargeld reingekommen, wohl aber gewissermaßen Schuldscheine, die eingelöst werden müssen und bei Ills Tod dann auch zu Geld werden.
[Zusammenfassung der Textsignale zu Textaussagen (Intentionalität):]
Wie immer sollte man am Ende der Detailanalyse eines Textes dessen Signale zur einer Text Aussage (Internationalität) zusammenfassen. Am besten setzt man den Satz fort: „Der Textausschnitt (in diesem Falle die beiden Szenen) zeigt:
- Zunächst einmal die Grenzen der Solidarität mit Ill. Der Lehrer noch deutlich, dass es Versuchungen gibt, die einfach zu groß sind.
- Außerdem stellt sich Ill jetzt dem, was er angerichtet hat, und ist bereit, die Folgen zu tragen.
- So wird er frei, sich auch auf dem positiven Aspekt seines Schicksals zu stellen, nämlich dem Fortschritt für den Ort und besonders auch für seine Familie. Das ist gewissermaßen ein ungewollter Nebeneffekt des eigentlich ungeheuerlichen Vorgangs.
- Deutlich wird, dass im Unterschied zum Pfarrer und besonders zum Lehrer die Familie noch ganz in der Lüge und der damit verbundenen Scheinwelt des Selbstbetrugs lebt.
- Ill akzeptiert das aber trotzdem, beschränkt sich auf Teilhabe statt auf Anklage.
[Übergang zur Sinnfrage und zur Stellungnahme des Lesers:]
Hier taucht natürlich die Frage auf, ob Ill sich nicht auf ganz eigene Art und Weise auch an seiner Familie rächt, indem er sie in ihrem neuen Luxusleben begleitet im Bewusstsein, dass sie wahrscheinlich auch noch von Reue eingeholt werden, wenn ihnen nach seinem Tod irgendwann die Realität bewusst wird oder sie jemand darauf aufmerksam gemacht.
Damit sind wir bereits bei der Ebene des Sinns, die auch weiterführende Überlegungen einschließt.
Was mögliche Fragen des Lesers angeht, könnte er überlegen, ob der Lehrer doch noch eine andere Chance gehabt hätte, sich an die Seite Ills zu stellen und für ihn etwas zu erreichen. Die Antwort dürfte aber negativ sein, weil die Unfähigkeit des Lehrers ja zur Unwilligkeit Ills passt – und es im Text keine Signale für Alternativentwicklungen gibt: Die Außenwelt ist verschlossen, weil keine Briefe verschickt werden – und die Presse will die Wahrheit gar nicht wissen, wird auch gezielt von ihr ferngehalten.
Eine zweite Frage ist die, ob Ills Umgang mit seiner Situation nicht übermenschlich ist, Er wird fast zum Heiligen, wenn man ihm nicht die oben angedeutete böse Absicht unterstellt.
[Die Frage der künstlerischen Mittel:]
Was noch fehlt, ist die Klärung, welche künstlerischen Mitteln Dürrenmatt einsetzt, um die Szenen wirkungsvoll zu gestalten:
Am besten geht man den Text einfach noch einmal durch und sammelt die Elemente, die sprachliche Besonderheiten aufweisen.
Da geht es zum Beispiel um das Bild von der „schändlichen“ Milliarde, die in unseren Herzen „brennt“. (102 15/16)
Sehr intensiv ist der anschließende Wechseldialog, bei dem der Lehrer in gewisser Maße Ill die Stichworte gibt, um einen langen Monolog zu vermeiden.
Genau den gibt es dann auf Seite 103 und er erscheint auch angemessen, weil der Lehrer sehr konzentriert und zugleich detailliert seine Situation schildert und sein Verhalten begründet.
Eine gute Idee war es sicherlich, am Ende unten auf Seite 103 den Lehrer nicht nur zu einer zweiten Flasche Steinhäger greifen zu lassen, sondern auch das Motiv des Anschreibens und damit sein Einschwenken auf die Linie der anderen besonders deutlich zu machen.
Sehr gelungen erscheint auf Seite 104 die Kontrastierung von realem und den neuen Möglichkeiten entsprechenden Verhalten der Familienmitglieder und Ihren alten Plänen, die noch ganz zur Situation der Not gehören.
Sehr diskussionswürdig ist die Bemerkung Ills auf Seite 105,19-21: Es kann sich sowohl um den Gipfel der Toleranz handeln wie auch versteckte Kritik an der Einstellungen und dem Verhalten der Ehefrau.
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