Video zum historischen Hintergrund von Dürrenmatts Theaterstück „Die Physiker“ (Mat4456)

Das Video ist auf Youtube zu finden unter:

https://youtu.be/3Ujv-r8gRZk

Hier geht es zur Video-Dokumentation:

Mat4456 VidBegl Dürrenmatt Physiker – historischer Hintergrund

 

    1. Vorüberlegungen:
      Dürrenmatts Theaterstück „Die Physiker“ ist in besonderer Weise politisch.
    2. Es geht um nichts weniger als um die Verantwortung der Wissenschaft – 1961/1962 vor allem im Hinblick auf die Gefahr durch Atomwaffen.
    3. Heute denken wir daneben auch noch an den Klimawandel und vieles mehr.
    4. Im Mittelpunkt des Bildes:
      1. Dürrenmatts Ansatz im Stück sind die Gefahren einer Entwicklung, die die Menschheit noch nicht beherrschen kann.
      2. Der geniale Forschser Möbius wählt den Weg des Rückzugs in ein „Irrenhaus“, wie es zu Zeiten Dürrenmatts noch genannt wurde.
      3. Aber deutlich wird auch auf S. 85 der Taschenbuchausgabe: „Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.“
      4. Dementsprechend geht das auch schief, zumal Möbius so unvorsichtig ist, in der Klinik weiter vor sich hin zu forschen und auch noch Aufzeichnungen rumliegen zu lassen.
      5. Am Ende steht die negative Zukunftsvision der Herrschaft einer größenwahnsinnigen Ärztin und einer „radioaktiven Erde“ (87)
      6. Aber es gibt eben auch noch die 21 Punkte, bei denen einer Hoffnung macht, der andere sie ein bisschen wieder einschränkt und der dritte die Chance auf eine Lösung zumindest offen lässt:
        • 17: „Was alle angeht, können nur alle lösen.“
        • 18: „Jeder Versuch eines Einzelnen, für sich zu lösen, was alle angeht, muss scheitern.“
        • 21: „Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu überwältigen.“
  1. Voraussetzungen des Stücks
    1. I. Weltkrieg mit ca. 17 Millionen Toten – und schon dem Einsatz von Giftgas = auch Massenvernichtungswaffe
      siehe hierzu weiter unten ein interessantes Zitat aus einer Biografie, in der der spätere Premierminister Churchill rückblickend ganz im Sinne Dürrenmatts auf das Neuartige des Ersten Weltkrieges hinweist.
    2. II. Weltkrieg mit 60-80 Millionen Toten, vor allem auch vielen zivilen Opfern und dem millionenfachen Völkermord in den Konzentrationslagern
    3. August 1945: Abwurf von zwei amerikanischen Atombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki: mit ca. 100.000 direkten Todesopfern und vielen, die später an der Strahlenkrankheit starben
    4. 1949 hat auch die Sowjetunion, die Supermacht im Osten Europas und Asiens die Atombombe
      seitdem stehen sich zwei Weltmächte und ihre Verbündeten wie Skorpione in einem Glas gegenüber: Sie können sich gegenseitig totstechen, aber nicht den tödlichen Biss des anderen abwehren.
    5. Glücklicherweise hat die Abschreckung funktioniert. Aber es gab mindestens zweimal tödliche Gefahren:
      1. Einmal 1961 beim Mauerbau, als sich plötzlich amerikanische und sowjetische Panzer in Berlin gegenüberstanden. Man fand dann glücklicherweise einen Kompromiss. Dies Ereignis war Dürrenmatt sicher beim Schreiben bekannt.
        Das Problem war, dass der Westen dem Osten militärisch unterlegen war, was die Größe der Armeen anging und auch die Zahl der Panzer zum Beispiel. Deshalb behielt er sich immer vor, auch als erster zur Abwehr Atomwaffen einzusetzen.
        Das hätte dann die Gefahr der Eskalation mit sich gebracht – und die Erde hätte am Ende eine Atomhölle sein können, so wie sie am Ende des Dramas vorausgesehen wird.
      2. Was Dürrenmatt beim Schreiben des Stücks und auch bei der Uraufführung im Februar 1962 noch nicht voraussehen konnte, was die sogenannte Kubakrise vom Oktober 1962:
        Die Amerikaner entdeckten, dass die Sowjetunion heimlich mit Schiffen Raketen nach Kuba brachte, die große Teile der USA atomar bedrohen konnten – das war damals noch nicht selbstverständlich, es gab noch keine Interkontinentalraketen.
        Präsident Kennedy kam auf die Idee einer Seeblockade – und die sowjetischen Schiffe fuhren langsamer, bis eine Lösung gefunden war.
        Heute wissen wir, dass es wohl nur ein sowjetischer Offizier war, der verhindert hat, dass ein U-Boot der Sowjetunion zu seiner Verteidigung sich mit einem Atomtorpedo wehrte.
        https://de.wikipedia.org/wiki/Wassili_Alexandrowitsch_Archipow
        Man sollte dem Mann ein Denkmal setzen.
    6. Es gab aber auch Gegenbewegungen gegen diese tödliche Gefahr:
      1956 schrieb Robert Jungk das Buch „Heller als tausend Sonnen“, in dem er beschrieb, wie auch die amerikanischen Atomforscher vor und nach 1945 Skrupel bekamen, diese aber unterdrückten – oder unterdrücken mussten.
      Er hat also vor Dürrenmatt sehr deutlich die Verantwortung der Wissenschaftler beschrieben.
    7. Dürrenmatt hat das Buch nicht nur gelesen, sondern darüber auch einen Zeitungsbericht (Rezension) verfasst.
      Das hat ihn an die Thematik herangeführt, was später dann zum Theaterstück führte.
    8. Glücklicherweise gab es nach der Kubakrise zunehmend auch eine Entspannungspolitik, die schließlich sogar dazu führte, dass zumindest Mittelstreckenraketen abgeschafft wurden, die besonders gefährlich sind – wegen der kurzen Warn- und Reaktionszeit.
    9. Leider ist dieser Vertrag zwischen den USA und Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion gerade – im Jahre 2019 – wieder außer Kraft gesetzt worden.
    10. Zudem gibt es inzwischen einige andere Atommächte: Besonders bedrohlich sind Spannungen zwischen Indien und Pakistan.
    11. Außerdem bemüht sich Nordkorea um atomare Aufrüstung, weil das Land so glaubt, vor einem Angriff auf sich und sein kommunistisches System geschützt zu sein.
    12. Zu der Gefahr durch Atomwaffen kommt die Gefahr durch Atomkraftwerke: 1986 Tschernobyl, 2011 Fukushima, in Deutschland ist die Bevölkerung im Raum Aachen in Sorge, weil es auf belgischer Seite ein Atomkraftwerk gibt, die pannenanfällig sein sollen.
    13. Dazu kommt die Gefahr durch chemische Waffen (Giftgas) sowie biologische Waffen (Krankheitserreger), die auch als Massenvernichtungsmittel eingesetzt werden können.
    14. Aber auch außerhalb der Waffenindustrie gibt es Gefahren durch die moderne Forschung: etwa im Bereich der Gentechnik. Was Wissenschaftler da entwickeln und Firmen ausprobieren, ist schwer zu kontrollieren.
      Ethische Probleme tauchen auch bei der Frage des Klonens auf.
    15. Dann ist da auch noch die sogenannte „künstlische Intelligenz“, die angeblich immer klüger wird und vielleicht eines Tages nicht mehr kontrolliert werden kann. Auf jeden Fall fallen viele Arbeitsplätze weg – und die Entwickler der modernen Roboter denken an die nicht unbedingt.
    16. Dann doch noch mal zu den Waffen: Künstliche Intelligenz und Robotertechnik kann zu neuen Kriegen führen, in denen Maschinen darüber entscheiden, ob Menschen getötet werden oder nicht.

Nachtrag zur fortdauernden Aktualität des Themas:

Im Kapitel „Zurück in die Politik“ seiner Biografie „WINSTON CHURCHILL: DER SPATE HELD“ (C.H.Beck Verlag, 2014)
beschreibt Thomas Kielinger, wie Churchill als einfaches Mitglied des englischen Unterhauses nach seinem freiwilligen 6-Monate-Einsatz in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges seinen Parlamentskolleginnen und -kollegen die Leviten liest. Hier ein Zitat, das Churchill später in einen Essay „Sollen wir alle gemeinsam Selbstmord begehen?“

„Ohne dass sie [die Menschheit] nachweislich an Tugend gewonnen hat oder an weisem Rat gewachsen ist, hat sie zum ersten Mal Werkzeuge in ihrer Hand, mit denen sie unfehlbar ihre eigene Auslöschung vollenden kann. Das genau ist der Punkt unseres Schicksals, zu dem die Ruhmestaten und Mühen des Menschen ihn letztlich geführt haben. Er wird gut daran tun, anzuhalten und seine neue Verantwortung zu überdenken. Der Tod steht auf Habacht, gehorsam, erwartungsvoll, bereit zu dienen, bereit, Menschen en masse hinzumähen; bereit, auf einen Wink hin zu pulverisieren, was von der Zivilisation übrig geblieben ist, und das ohne Hoffnung auf Wiederaufbau.“

Zitiert aus:
Winston Churchill: Der späte Held von Thomas Kielinger
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(E-Book-Ausgabe: Pos. 2398 von 6429)

Hier zeigt sich genau das, was Dürrenmatt Möbius fürchten lässt:

Die Menschheit ist noch nicht reif dafür, hat aber „Werkzeuge in ihrer Hand“, mit denen sie die „eigene Auslöschung“ herbeiführen kann. Und dann ist auch von „Verantwortung“ die Rede – in diesem Falle sind sicher die Politiker gemeint.

Wer noch mehr möchte …