Dürrenmatts „Die Physiker“ zwischen klassischem und modernem Drama (Mat4536)

Dürrenmatts „Die Physiker“ zwischen klassischem und modernem Drama

  1. Wenn vom „klassischen“ Drama die Rede ist, dann meinen wir das, das der griechische Philosoph Aristoteles in der Antike erstmals und für lange Zeit gültig beschrieben hat:
    1. Hintergrund war der Vorwurf seines Philosophen-Kollegen Plato, die Dichter würden „lügen“, also einfach was erfinden, was eben nicht wahr ist und der Gesellschaft auch nicht nützt, ja vielleicht sogar gefährlich ist.
    2. Das erinnert so ein bisschen an die Situation in Deutschland zur Zeit Goethes und Schillers, wo man vor allem die Freude von Frauen an der zunehmenden Flut von Romanen fürchtete. Die galten im Vergleich zu Dramen und Gedichten damals als nicht so hochwertige Literatur, vor allem als fantastische Machwerke. Man dachte, Frauen kämen vor allem bei Liebesromanen nur auf dumme Gedanken, ihre Fantasie würde unnötig angeregt und das würde sie für ihre eigentliche Aufgabe (damals so gesehen), für Haus und Familie zu sorgen, verderben.
    3. So ähnlich, wenn auch sicher sehr viel anspruchsvoller hat wohl auch Plato gedacht, der am liebsten eine Herrschaft der Philosophen gehabt hätte, also etwas auf höchstem gedanklichen Niveau und überaus ernsthaft.
    4. Aristoteles war im Gegensatz zu dem „Idealisten“ Plato sehr viel mehr an der Wirklichkeit interessiert und dachte durchaus, dass man mit Hilfe von Theaterstücken etwas Positives in der Gesellschaft erreichen könnte.
    5. Konkret bedeutete das, dass man in der Tragödie zeigen sollte, wie auch Menschen hohen Standes – Könige und Heerführer – dem Schicksal ausgeliefert waren. Man sprach hier von „Fallhöhe“.
    6. Erregt werden sollte bei den Zuschauern zum einen Schrecken bzw. Furcht (ein Gefühl für die eigene Winzigkeit angesichts großen Unheils) und damit verbunden eine Art Jammer bzw. Rührung, durchaus eine Art Mitleid mit dem Helden auf der Bühne, aber auch der ganzen Menschheit, der so etwas jederzeit drohen konnte.
    7. Daraus entstehen sollte die sogenannte „Katharsis“, eine positive Verarbeitung dieser Gefühle in eine Art moralische Haltung. Jeder kennt das aus dem Kino, wenn man sich dort vom Schicksal anderer Menschen hat anrühren lassen und dann für zumindest kurze Zeit über das Leben und die Mitmenschen anders, ernsthafter denkt, als man es normalerweise tut.
    8. Gefühle spielen also im klassischen Theater eine große Rolle, man soll regelrecht mit den Figuren auf der Bühne mitgehen, mitleiden.
    9. Dafür ist natürlich „Illusion“ nötig, was wörtlich heißt, dass man sich in das Spiel der Bühne hineingezogen fühlt. Damit das gut funktioniert, man also aus diesem Illusionsgefühl möglichst nicht rausgerissen wird, gibt es seit Aristoteles die sogenannten „drei Einheiten“:
      1. Zunächst einmal ist das die Einheit der Handlung – die Zuschauer sollen dem Schicksal des Helden fortlaufend folgen können, also keine Nebenhandlungen.
        Daraus ist später ein streng symmetrisch aufgebautes Drama geworden – mit im Idealfall 5 Akten:
        Akt 1 = Exposition, Vorstellung des Konflikts
        Akt 2 = Steigerung, weitere Entfaltung des Konflikts
        Akt 3 = Höhe- und Wendepunkt der Handlung und des Schicksals des Helden
        Akt 4 = Retardation: Verzögerung, der Held kämpft noch, macht sich noch Hoffnungen, sucht nach Lösungen
        Akt 5 = Auflösung des Konflikts, in der Tragödie oft identisch mit dem Untergang des Helden.
      2. Dementsprechend auch kein Ortswechsel – Aristoteles konnte sich noch nicht vorstellen, dass Zuschauer durchaus in der Lage sind, den Helden plötzlich an einem anderen Ort zu sehen. Man merkt hier, wieviel mehr Fantasie modernen Menschen möglich ist.
      3. Am Ende dann noch die Einheit der Zeit. Das heißt: Alles muss an einem Tag sich abspielen, möglichst in wenigen Stunden – so dass die Zuschauer auch zeitlich mitgehen können.
    10. All das sollte also dazu führen, dass die Zuschauer voll mitgehen und aus dem Schicksal des Helden für sich moralisch-ethische Konsequenzen ziehen.
  2. Inwieweit sind nun diese klassischen Kennzeichen in Dürrenmatts Tragikomödie zu finden. Wir verstehen darunter hier einfach eine Tragödie mit (scheinbar lustigen) Komödien-Elementen.
    1. Einheit von Ort und Zeit kein Problem, ist von Dürrenmatt selbst im Vorwort angekündigt.
    2. Einheit der Handlung = ist gegeben, keine Nebenhandlungen, letztlich läuft alles auf die Katastrophe zu, die allerdings durch den Zufall herbeigeführt wird, sich nicht als logische Konsequenz aus dem Charakter und dem Verhalten des Helden ergibt.
      Insgesamt gibt es eine klare Spannungskurve, allerdings ist die Übertragung des Pyramiden-Modells nicht ganz einfach, macht vor allem in der Frage des Höhe- und Wendepunktes Schwierigkeiten, weil hier die Grenze zwischen den beiden Akten überschritten wird.

      1. Akt 1 = Exposition, Vorstellung des Konflikts
        S. 15-31: 2. Mordfall, Vorstellung der Klinik und der Ärztin sowie ihrer Familiengeschichte mit Vorverweis auf die „Abgründe“ bei den Menschen;
        Vorstellung der Physiker als Patienten, aber auch schon Vorverweis auf die Probleme der Wissenschaft (Elektrizität, S. 22), auch schon die Frage der Schuld: Inspektor soll sich selbst verhaften (23)
        Grenzen der Medizin bis hin zum Versagen: „keine Erklärung“ (27); alle können zum Mörder werden;
        Vorverweis auf die Atombombe und die Radioaktivität
        Wechsel im Pflegepersonal als Versuch der Minderung der Gefahr.
      2. Akt 2 = Steigerung, weitere Entfaltung des Konflikts
        S. 31-43: Endgültige Trennung der Familie von Möbius; Frau ist geschieden und will mit den Kindern weg, neue Ehe
        Ärztin will sich um das Geld für die Betreuung von Möbius kümmern, ihn – wie man später versteht – unter Kontrolle behalten und weiter ausnutzen.
        Möbius warnt vor der Beschäftigung mit Physik
        und vertreibt die Familie schließlich mit einem höchst negativen Weltraumfahrer-Psalm
      3. Akt 3 = Höhe- und Wendepunkt der Handlung und des Schicksals des Helden
        S. 43-67: Relativ offenes Gespräch zwischen Möbius und Schwester Monika;
        Liebe als „Dilemma“-Produzent wird hier sichtbar auf die Bühne gebracht, wurde vorher schon angedeutet (vgl. 20)
        Monika will Möbius aus der Isolation herausholen, hört nicht auf Warnungen und muss deshalb sterben
        Erneute Ermittlungen, verändertes Verhalten des Inspektors passt zur Spiegelbildlichkeit der Situation um den Wendepunkt herum; am Ende soll die Gerechtigkeit Pause machen, Vertreter des Staates überfordert und müde
        Erscheinen der neuen Pfleger und damit Einschränkung der Fluchtmöglichkeiten (Anmerkung: Wie passt das zum Erlaubnis der Ärztin für Möbius, mit Monika die Anstalt zu verlassen?)
        Outing der beiden anderen Physiker als Agenten, wollen Möbius für ihr Land gewinnen, Patt-Situation; Physiker werden eingesperrt.
      4. Akt 4 = Retardation: Verzögerung, der Held kämpft noch, macht sich noch Hoffnungen, sucht nach Lösungen
        67-78
        Möbius will die beiden Physiker-Agenten dafür gewinnen, mit ihm in der Isolation zu bleiben und damit die Menschheit zu schützen. Die Manuskripte hat er verbrannt.
        Damit würde sich ein positives Ende des Dramas ergeben, wenn auch zum Preis großer persönlicher Opfer der drei Physiker, wozu sie sich bereit erklären.
      5. Akt 5 = Auflösung des Konflikts, in der Tragödie oft identisch mit dem Untergang des Helden.
        78-87: Die Ärztin erscheint, hat alles mit angehört, die Manuskripte vorher kopiert und damit schon ein Weltunternehmen aufgebaut, das die Forschungen von Möbius ökonomisch nutzt
        durch die von der Ärztin vorbereiteten Morde an den Krankenschwestern haben die Physiker keine Chance, sich mit ihrer Wahrheit an die Öffentlichkeit zu wenden und die Ärztin an der Umsetzung ihrer Pläne zu hindern.
        Am Ende akzeptieren die Physiker ihre Situation und Möbius entwickelt eine bedrückende Zukunftsaussicht für die Erde.
    3. Fallhöhe: In gewisser Weise gegeben, denn der klügste Wissenschaftler der Welt ist nicht in der Lage, einen solchen möglichen Zufall vorauszusehen und sich davor zu schützen.
      Letztlich verliert Möbius hier seinen Heldenstatus, er ist Opfer der Umstände. Aber was ist hier anders als bei König Ödipus, der auch Opfer von Zufällen wird und am Ende genauso als verzweifelter Mensch dasteht wie Möbius. Das könnte man genauer untersuchen lassen.

Wer noch mehr möchte …