Was heißt: einen Text auslegen“? Karoline von Günderrode, „Liebe“ (Mat4749)

Worum es hier geht:

Wichtig bei Gedichten ist, dass man möglichst schnell einen Zugang dazu bekommt. Man überfliegt den Text und notiert sich erste Beobachtungen und Ideen.

Wichtig dabei ist, sich auf den Text einzulassen, ihn mit Verständnis zu füllen. Das ist natürlich immer nur hypothetisch. Alles, was nicht direkt im Text steht, muss man zumindest aus ihm ableiten. Früher nannte man das „Auslegen“ eines Textes. Man rollt das Knäuel gewissermaßen in seiner ganzen Andeutungsbreite aus.

Wir probieren es bei diesem Gedicht mal aus.

Karoline von Günderrode

Liebe

O reiche Armut! Gebend, seliges Empfangen!
In Zagheit Mut! in Freiheit doch gefangen.
In Stummheit Sprache,
Schüchtern bei Tage,
Siegend mit zaghaftem Bangen.

  • O reiche Armut! 
    Zeile 1: Ausruf und Gegensatz: Es geht um Armut, die zugleich reich ist.
    Das kann man auf den Titel, also die Liebe beziehen.
    Sinnvoll ist es, sich zu überlegen, wieso Liebe gleichzeitig arm sein kann und reich.
    Zum Beispiel: Weil es eigentlich um wenig geht – man sieht das geliebte Gegenüber und der Tag ist gerettet.
  • Gebend, seliges Empfangen!
    Dann die zweite Hälfte der ersten Zeile:
    Sie macht dann deutlich, dass man etwas abgibt, z.B. Zeit, Aufmerksamkeit, Rücksichtnahme, dafür aber eben auch etwas Bereicherndes bekommt, z.B. Wärme, Zuneigung.
  • In Stummheit Sprache,
    Gerade in der Liebe muss man nicht viel reden, um etwas auszudrücken.
  • Schüchtern bei Tage,
    Damit könnte gemeint sein, dass man so etwas Großes erlebt, dass man mit der normalen rationalen Helligkeit des Tages gar nicht gut klarkommt.
  • Siegend mit zaghaftem Bangen.
    Am Ende aber fühlt man sich als Sieger, auch wenn man immer noch vorsichtig, behutsam bleibt, sogar angesichts von soviel Glück ein gewisses „Bangen“, also eine sanfte Form von Angst hat.

Lebendiger Tod, im Einen sel’ges Leben
Schwelgend in Not, im Widerstand ergeben,
Genießend schmachten,
Nie satt betrachten
Leben im Traum und doppelt Leben.

  • Lebendiger Tod, im Einen sel’ges Leben
    Hier gibt es den größten Gegensatz. Vielleicht ist damit gemeint, dass in der Liebesbegeisterung vieles „abstirbt“, was sonst eine große Rolle spielt. Jeder kann selbst überlegen, welche Interessen zurücktreten, wenn man sich voll auf eine Beziehung konzentriert.
  • im Einen sel’ges Leben
    Hier gibt das Gedicht selbst eine Richtung vor, nämlich, dass sich alles auf ein einziges, aber eben seliges Leben konzentriert. Das heißt: Die Vorüberlegungen zum Gegensatz lassen sich aufrecht erhalten, werden durch das Gedicht selbst bestätigt.
  • Schwelgend in Not, 
    Jetzt wird es wieder etwas harmloser – wie am Anfang. Man ist zwar in Not, muss sich z.B. bei seinen früheren Freizeitaktivitäten beschränken, hat dafür aber an anderer, konzentrierter Stelle vollen Genuss.
  • im Widerstand ergeben,
    Das kann man so verstehen, dass das alte, frühere Leben vor der Liebe hin und wieder noch Forderungen stellt. Man ergibt sich dann aber – sicher der Liebe.
  • Genießend schmachten,
    Nie satt betrachten

    Hier wieder der Gegensatz – der wohl in Richtung geht von: Man genießt und will davon immer mehr.
    Kritische Anmerkung: Hier könnte ein Problem der Liebe liegen, aber das gehört zu dieser Gefühlsintensität eben dazu.
    Der zweite Teil der Doppelzeile setzt dann wieder einen erklärenden Akzent: Es geht darum, nie satt zu sein. Denn das wäre der Tod der Liebe. Das erinnert auch an romantische Vorstellungen vom Weg als Ziel. Es geht letztlich um eine fortdauernde Sehnsucht.
  • Leben im Traum und doppelt Leben.
    Am Ende dann eine abschließende Zusammenfassung:
    Man lebt in einem Traum – und alte Freunde z.B. mögen einen vielleicht sogar aus der Enttäuschung oder aus Neid heraus warnen.
    Man selbst aber empfindet ein verdoppeltes Leben.

Zusammenfassung:

  1. Dieses Gedicht dürfte auf beeindruckende Art und Weise klargemacht haben, was das Wesen der Lyrik ist.
    Auf sehr konzentrierte Weise wird dem Leser so viel Stoff geliefert, dass seine eigene Fantasie spazierengehen kann.
    Wichtig ist dabei nur immer die Rückkoppelung an den Text. Das hat sich an einigen Stellen ja auch deutlich gezeigt. Hypothesen zum Verständnis haben sich dann direkt danach bestätigt bzw. präzisiert.
  2. Insgesamt macht das Gedicht deutlich, was intensive Liebe auszeichnet, nämlich etwas, was man im Mittelalter auf lateinisch „coincidentia oppositorum“ nannte und auf Gott bezog: Es geht um den Zusammenfall, die Synthese von Gegensätzen.