Erich Kästner, „Keiner blickt dir hinter das Gesicht“ (Fassung für Beherzte) (Mat4357)

Was hier interessant ist

Es kommt selten vor, dass ein Dichter ganz freimütig erklärt, dass es bei einem Gedicht-Titel verschiedene Fassungen gibt – je nach Lesergruppe.

Wir werden noch sehen, dass   das hier eine besonere Bedeutung hat.

Fassung 1: „Keiner blickt dir hinter das Gesicht (Fassung für Beherzte)“

  • Schon mit der Überschrift setzt Kästner hier einen interessanten Impuls in der Leserlenkung.
  • Erstaunlich klar wird das, was im Gedicht geboten wird, durch die Überschrift relativiert.
  • Es wird nur noch eine besondere Adressatengruppe angesprochen und man kann sich nach der Lektüre des Gedichtes natürlich fragen, ob die Einschränkung dann schon begründet erscheint oder ob man das andere Gedicht noch zum Verständnis hinzunehmenmuss.

Fassung 1, Strophe 1

  • Die erste Strophe macht verständlich, wieso dieses Gewicht sich nur an beherzte Menschen wendet.
  • Denn es nimmt ihnen die Hoffnung, wenn sie arm sind, dass andere sich dafür interessieren (können).
  • Am Ende noch ein weiteres Argument. Das lyrische Ich geht davon aus, dass arme Menschen eine zusätzliche Sperre haben, überhaupt ihre Notlage anzusprechen.

Fassung 1, Strophe 2

  • In der zweiten Strophe macht das lyrische Ich etwas stärker klar, was es unter Beherztheit versteht.
  • Ganz offensichtlich ist damit die Bereitschaft und Fähigkeit gemeint, die Last der Notlage lächelnd zu ertragen.
  • Verbunden ist das mit dem Trick, die Notlage im Rahmen des Möglichen aus den Augen zu verbannen.
  • Offen bleibt, wie echt oder auch aufgesetzt dieses Lächeln ist (typisches Beispiel für eine erweiterte Interpretation, bei der auch Lücken und offene Fragen angesprochen werden 😉
  • Auch hier dann eine weitere Begründung für den Hinweis, dass dieses Gedicht in der Form sich an beherzte Menschen wendet. Ein weiteres Mal eine schlechte Nachricht, nämlich, dass man von einer Notlage zwar absehen kann, sie verschwindet deshalb aber nicht.
  • Das wird im Bild des Drückens und des dadurch verursachten Sich-Bückens ausgedrückt.
  • Dann wird schon auf den Ausgang dieser Versuchen einer autonomen Bewältigung der Notlage hingewiesen, nämlich dass man am Ende ausgelächelt hat, also am Ende mit seiner Kunst ist.
  • Als weitere Möglichkeit angeboten wird ein Paar Krücken. Man ist gespannt (Leserlenkung), wie mit dieser Möglichkeit weiter umgegangen wird.

Fassung 1, Strophe 3

  • Dann wird ein spezieller Fall durchgespielt, nämlich das kurzzeitige echte Interesse eines anderen an der eigenen Person und ihrerLage.
  • Auch hier dann wieder die Enttäuschung, nämlich der Hinweis, dass diese andere Person den Versuch der Annäherung bzw. des Verständnisses schnell abbricht und wieder in die scheinbar schützende große Herde zurückkehrt.

Fassung 1, Strophe 4

  1. Die letzte Strophe versucht dann doch noch etwas Mut zu machen.
  2. Allerdings gelingt das nur auf der Ebene des Scheins und der Gewissheit – oder ist es nur eine Annahme? – dass die anderen das nicht sehen.
  3. Am Ende dann der sehr seltsame Trost der Behauptung, der Arme kenne seine Armut angeblich nicht.

Zusammenfassung

  1. Insgesamt ein Gedicht, das sich an arme Menschen richtet, die allerdings beherzt sind, d.h. über Mut und innere Standhaftigkeit verfügen.
  2. Diese Fähigkeiten sind allerdings auch nötig denn das Gedicht besteht eigentlich aus einem Programm der Desillusionierung.
  3. Als einzige Hoffnung bleiben die Krücken, das wird aber nicht weiter ausgeführt.
  4. Am Ende dann ein Ratschlag, der dieses Gedicht wertlos erscheinen lässt, denn es kehrt zur Ausgangssituation zurück. Die allerdings war schon mit einem negativen Ende versehen worden.
  5. Besonders rätselhaft ist der letzte Satz. Der ist vielleicht so zu verstehen, dass auf recht provokative Art und Weise dem armen Menschen empfohlen wird, ins Vergessen zu flüchten.
  6. Der eigentliche Sinn des Gedichtes könnte darin liegen, dass es beherzte Menschen so sehr provoziert, dass sie am Ende sagen: Dem zeige ich es aber mal.
  7. Denn ganz offensichtlich lässt dieses Gedicht in seiner schon Einseitigkeit vieles unberücksichtigt. Die pauschalen Aussagen über andere Menschen stimmen natürlich in der Grundsätzlichkeit nicht. Es gibt immer wieder Menschen, die einem helfen können, wenn man geeignete Wege der Verbindung findet.
  8. Auch die Überlegung, dass Armut gegebenenfalls auch ein Ergebnis eigenen falschen Verhaltens oder zumindest Denkens sein kann, spielt keine Rolle. Es kann sich durchaus lohnen, nach bisher verborgenen oder versteckten Talenten zu suchen.
  9. Alles das sind keine Patentlösungen, sondern nur zumindest Möglichkeiten, die das Gedicht verschweigt.
  10. Vor diesem Hintergrund kann man nur noch einmal abschließend annehmen, dass dieses Gedicht, wie schon angesprochen, als Provokation gesehen wird und sich deshalb zurecht an Leute richtet, die beherzt sind, d.h. über Mut und Einfallsreichtum verfügen, sich anders zu verhalten, als es im Gedicht beschrieben wird.

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