Beispiel für die Erörterung einer Position: Maryanne Wolf, „Schnelles Lesen langsames Lesen“ (Mat8100)

Worum es hier geht:

Ausgangspunkt war die Frage einer Schülerin, wie man aus einem Artikel Argumente herauslösen kann, die man anschließend erörtern kann.

Leider hat sich herausgestellt, dass in dem Artikel für diese Aufgabe zu wenig Substanz war.

Deshalb haben wir eine der Lehrkräfte, die mit uns zusammenarbeiten, gebeten, sich den Artikel mal anzuschauen und ihn kritisch vorzustellen.

Es geht um den Artikel auf der Seite
https://www.deutschlandfunkkultur.de/maryanne-wolf-schnelles-lesen-langsames-lesen-auf-der-suche-100.html
Dort wird vorgestellt, was eine Literaturwissenschaftlerin meint, wenn es um das Lesen eines Buches oder das digitale Lesen geht.

Es ist wohl eine Art Rezension zu einem Buch.

Die Aufgabe war jetzt, die Position der Buchschreiberin zu „erörtern“, also zu zeigen

  • was man gut findet,
  • was man weniger gut findet,
  • was man noch hinzufügen könnte.

Wie gesagt: Wir mussten den Artikel erst mal durchchecken, vor allem im Hinblick auf die Position, die die Autorin des Buches da vertritt und die natürlich nur indirekt vorgestellt wird.

Wir kritisieren also hier gar nicht die Autorin, sondern die Position, wie sie in dem Artikel vorgestellt wird.

Zum Autor dieser Seite

Ursprünglich sollten hier nur die Argumente erörtert werden. Aber dann hat sich herausgestellt, dass man an einigen Stellen durchaus auch eigene Erfahrungen einbringen sollte – tut Frau Wolf ja erfreulicherweise ja auch.

Also haben wir den Autor dieser Seite, den langjährigen Deutschlehrer Lars Krüsand, gebeten, dies als Namensartikel zu veröffentlichen.

Er freut sich übrigens auch auf Rückmeldung – und natürlich auch kritische, sonst wird man ja nicht klüger 😉

Zusammenstellung der Bausteine und Anmerkungen dazu

Stellen wir also zusammen, aus welchen Bausteinen die Position der Wissenschaftlerin besteht. Präsentiert wird sie von Volkart Wildermuth in einem digitalen Beitrag des Deutschlandfunks vom 19.6.2019.

  1. „‚Wir haben noch nie so viel gelesen wie heute! Doch die digitale Datenflut eignet sich das Gehirn nicht als nützliches Wissen an‘, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Maryanne Wolf“ […]
    • Das ist erst mal eine sehr pauschale Aussage und stimmt in dieser Absolutheit nicht.
    • Denn natürlich eignet sich das Gehirn viel von dem an, was es am Bildschirm liest.
    • Das gilt für die Inhalte,
    • aber auch für den Umgang damit.
    • Denn natürlich haben wir gelernt, zum Beispiel mit Hyperlinks umzugehen.
    • Das Problem ist eher, dass wir dann im Netz der Hyperlinks den Ausgangspunkt und unsere eigentliche Aufgabe vergessen.
  2. „‚Lesen stärkt die Fähigkeit zur Empathie, die Kreativität, die Intelligenz und macht Spaß‘, so die Autorin. Das Gehirn reagiere auf die Umwelt.“
    • Genauso geht es weiter.
    • Wer auch nur ein bisschen Ahnung von der Welt hat, weiß, dass Lesen alles Mögliche bewirken kann. Aber genauso Hass und Wut.
    • Und dass das Gehirn auf die Umwelt reagiert, ist wieder so ein allgemeiner, fast nichtssagender Satz.
    • Wer bis hier den Artikel gelesen hat, ist wirklich gespannt, ob noch was Spannendes kommt.
    • Übrigens: Die Frau wird als „Literaturwissenschaftlerin“ vorgestellt. Wieviel Ahnung hat sie von Gehirnforschung? Aber vielleicht kommt das ja noch.
  3. Dann geht es um eine Kehrseite dieser Anpassungsfähigkeit:
    „„Je mehr wir an digitalen Geräten lesen, desto stärker reflektiert der Grundschaltkreis unseres Gehirns die Eigenschaften dieses Mediums.“

    • Was ist bitte der „Grundschaltkreis unseres Gehirns“?
    • Die Frau wendet sich doch wohl an Menschen, die in der Regel über Allgemeinbildung verfügen. Ich zähle mich dazu – aber von diesem „Grundschaltkreis“ habe ich noch nie was gehört: Großhirn, Kleinhirn, Synapsen – aber „Grundschaltkreis“?
    • Schaltkreise kennt man von Computerchips – aber wir dachten doch, dass das menschliche Gehirn etwas anderes ist, eher analog funktioniert.
    • Immerhin wird die Frau als „Leseforscherin“ bezeichnet. Vielleicht kommt ja noch was an näheren Informationen zu diesem doch eher seltenen Beruf.
  4. „Der negative Einfluss der digitalen Geräte sei auch an Kürzeln wie „tl,dr“ sichtbar (Abkürzungen für „too long, didn’t read“ – „zu lang, hab’s nicht gelesen“). Den „digital Natives“ gehe dadurch die kognitive Geduld für wirkliches Verstehen verloren, fürchtet Wolf. “
    • Hier wird willkürlich etwas herausgegriffen, was man auch positiv sehen kann.
    • Im Unterschied zum Buchlesen sagen hier Nutzer wenigstens, wie sie etwas finden – und trösten damit vielleicht andere, die auch keine Lust haben, mehr als 20 Zeilen am Stück zu lesen – am besten noch ohne Absatztrennung.
    • Was die Forscherin auch übersieht, ist etwas, was junge Menschen mir als älterem Leser voraus haben. Ich habe jahrelang als Lehrkraft gearbeitet und musste zu meinem Schmerz feststellen, dass die jungen Leute in der Verarbeitung von komplexen Text-Bild-Seiten deutlich schneller waren als ich. Sind sie dadurch dümmer geworden. Vielleicht hat sich die Medienwelt geändert und macht jetzt weniger fit für Hesses Romane, aber dafür mehr für anderes.
    • Übrigens habe ich vor vielen Jahren auch schon eine ähnliche Erfahrung gemacht wie Frau Wolf. Mein Gehirn  sperrte sich gegen das lesen einer Din-A3-Seite, die einen gigantischen Text in drei oder viel Spalten enthielt.
      Das einzige, was ich aber nur wollte, waren gliedernde Zwischenüberschriften.
      Übrigens sollte Frau Wolf auch wissen, dass es heute selbstverständlich ist, dass längere Artikel vorne ein Abstract haben.
    • Und noch etwas: Vielleicht sollte sich Frau Wolf mal ein aktuelles Deutschbuch anschauen – das sieht deutlich anders aus als eins aus den 60er Jahren, als die Bildungswelt angeblich noch in Ordnung war.
  5. „Die Folgen für unsere offene, demokratische Gesellschaft seien unabsehbar: Denn nur wer in der Lage ist, komplexe Zusammenhänge zu erfassen und zu verstehen, kann sich gesellschaftlich einbringen und Entscheidungen fällen.“
    • Statt uns den Schaltkreis genauer zu erklären, wird jetzt auf die oberste Bewertungsebene gesprungen.
    • Jetzt geht es gleich um die „offene, demokratische Gesellschaft“.
    • Es gibt Leute, die darauf hinweisen, dass unsere Demokratien heute von ganz anderer Seite bedroht sind – zum Beispiel, wenn alle Zeitungen mehr oder weniger die gleiche Meinung vertreten. Jemand hat mal die These vertreten: Eine Diktatur erkenne man daran, dass die Zeitungen das Gleiche vertreten wie die Regierung.
    • Oder wenn zum Beispiel den Bürgern und Bürgerinnen eine Informationsquelle im Internet verboten wird, die in anderen Ländern frei zugänglich ist.
    • Und was den Hinweis auf „komplexe Zusammenhänge“ angeht, da habe ich mal gelesen, dass Regierungen grundsätzlich in der Versuchung sind, den Bürgern nicht zu viel Zusammenhänge zu erklären – das könnte Widerspruch auslösen. Ein Minister soll mal erklärt haben, er wolle der Öffentlichkeit etwas nicht bekanntgeben, das könne sie beunruhigen.
    • Es geht hier nicht um Regierungskritik, sondern es geht hier darum, was in einer demokratischen Gesellschaft ein Problem sein kann.
    • Gut, dass wir das Grundgesetz haben, das ja festlegt, dass niemand wegen seiner Meinung verfolgt werden darf und dass es auch keine Zensur gibt – also die Einschränkung von Informationen.
    • Zurück zum Thema: Frau Wolf macht hier in ihrer Position etwas zu weite Sprünge. Es wäre schöner, wenn sie genauer auf die Unterschiede zwischen Buchlesen und digitalem Lesen eingehen würde. Die gibt es nämlich durchaus. Das digitale Lesen hat auch Vorteile. Ich habe zum Beispiel den Artikel auf einem anderen Bildschirm – und kann wichtige Zitate hier einfach reinkopieren.
  6. Aber der Text enthält ja auch kritische Ansätze des Verfassers, der Frau Wolfs Position vorstellt:
    1. Zum Beispiel verweist er auf das Engagement heutiger Jugendlicher, etwa bei „Fridays for future“.
      Ob diese Jugendliche sich aber in der Mehrzahl in die Materie eingearbeitet haben, darf bezweifelt werden – denn andere müssen erst ihr Abitur machen und dann auch noch jahrelang studieren – bis sie wissen, was wissenschaftliche Arbeit ist.
    2. Auch wird auf Studien verwiesen, die nicht so eindeutig sind.
  7. Am Ende dann wieder etwas sehr Allgemeines: Wir sollten das Buchlesen und das digitale Lesen verbinden.
    • Und wenn es am Ende heißt:
      „‚Wenn gutes Lesen in Gefahr gerät, sind wir alle gefährdet‘, sagt Maryanne Wolf – “
      Dann lassen wir das einfach für sich selbst stehen.
      Wir haben an der Uni noch gelernt, dass es nicht sehr wissenschaftlich ist, zwischen „gut“ und „schlecht“ zu unterscheiden. Ich lese fast nur noch digital und unterscheide sorgfältig zwischen den Grautönen der Beurteilung. Ist das bei jetzt „gutes“ oder „schlechtes“ Lesen?

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