Worum es hier geht:
Ich-Erzähler in einer Kurzgeschichte: Klärung von Erzählhaltung und Erzählperspektive (Beispiel: Reschke, „An den Strand“)
Wenn man einen erzählenden Text analysieren soll, muss man sich vor allem mit dem Erzähler (oder auch der Erzählerin) beschäftigen. Denn durch ihn oder sie erfahren wir als Leser ja eigentlich alles.
Im Folgenden wollen wir das mal am Beispiel einer Kurzgeschichte tun.
Das kann man sicher in vielerlei Hinsicht auf andere erzählende Texte übertragen.
Ein paar Vorüberlegungen:
- An einem Beispiel wollen wir zeigen, wie man ganz einfach einem Erzähler (oder in diesem Falle: einer Erzählerin) auf die Spur kommen kann.
- In Karin Reschkes Kurzgeschichte „An den Strand…“ geht es um eine Ich-Erzählerin, die ihr eigenes Erleben mit ihrer Mutter beschreibt. Damit ist schon mal viel geklärt.
- Im Hinterkopf behalten wir die normalerweise wichtigste Frage – nämlich die nach „personal“ oder „auktorial“. Beides ist natürlich auch bei einer Ich-Erzähl-Situation möglich.
- Es kann einfach beschrieben werden – in chronologischer Reihenfolge.
- Es kann aber auch gesteuert und kommentierend erzählt werden.
- Ansonsten interessiert uns, wie die Ich-Erzählerin sich in dieser Geschichte einbringt. Dabei geht vor allem um „Haltung“ und „Perspektive“.
- Mit „Haltung“ ist eher die Einstellung gemeint.
- Mit „Perspektive“ ist eher die Blickrichtung gemeint.
- Grundsätzlich gehen wir „induktiv“ vor, d.h. wir schauen uns den Text fortlaufend an und sammeln dabei alles, was für die Erzählhaltung und die Erzählperspektive interessant ist. Am Ende fassen wir das dann in Richtung der Fragestellung zusammen.
Hinweis zu unserem Video zum Thema
Wir haben dieses Thema auch in einem Video behandelt.
Zu finden ist es auf Youtube unter der Adresse:
Das Material zum Video kann hier als PDF-Datei heruntergeladen werden.
Dort wird das folgende Schaubild ausführlich vorgestellt:
Schaubild
Fortlaufende Untersuchung der Kurzgeschichte
- „Meine Mutter schwenkt die Wasserknie aus dem Bett, stellt die blauen Füße nebeneinander, zupft das Nachthemd zurecht, stützt die Hände auf die Bettkante“
Hier verhält sich die Erzählerin völlig zurückhaltend, gibt ganz neutral und sachlich wieder, was sie sieht.
— - „schürzt die Lippen wie früher, als sie jung war und etwas Beleidigendes sagen wollte gegen ihr Kind, das jetzt dasteht und kein Kind mehr ist.“
- Hier geht die Beobachtung über in den Vergleich mit früheren Zeiten, also in die Erinnerung.
- Dazu kommt die rückblickende Interpretation. Die Erzählerin tut so, als könne sie sicher sagen, was ihre Mutter damals hat ausdrücken wollen
- und es ist negativ („Beleidigendes „)
- Es folgt der Hinweis auf das Problem, das die Ich-Erzählerin mit ihrer Mutter hat. Die tut nämlich ihrer Meinung nach immer noch so, als habe sie ihr kleines Kind vor sich – und nicht einen erwachsenen Menschen.
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- „Ich […] führe sie Schritt für Schritt hinaus, über den Flur ins Bad zur Toilette, setze sie in die Hocke […]. Unter ihr schlägt das Wasser an den Rand der Schüssel, sie hält sich fest an ihrem Hemd. Früher hat sie mich dahin gesetzt, meine Füße baumelten, mein Hintern schwebte über dem Porzellan, die Holzbrille wackelte, ich klammerte mich an ihre Knie. Ihre Wasserknie zittern jetzt, ihre blauen Füße suchen das Weite.
- Hier wird wieder einer neutralen, distanzierten Beschreibung der Gegenwart die gemeinsame Vergangenheit gegenübergestellt.
- Nicht offen ausgesprochen, für den Leser aber überdeutlich, ist da Kritik an der zu geringen Unterstützung des kleinen Kindes durch die Mutter.
- Ebenfalls nicht offen ausgesprochen, aber genauso deutlich ist die Gleichsetzung der Hilflosigkeit und der damit verbundenen Gefühle.
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- „Sie weint in die Kissen. Hat immer geweint, wenn es ihr dreckig ging. Weinte, als ihr Mann, mein Vater, gleich nach dem Krieg mit einer anderen ging und sie, noch jung, verlassen wurde von ihm, ein Kind am Hals. Weinte Jahre ihrem Mann hinterher, weinte Weihnachten, Ostern, Pfingsten und an den Geburtstagen, weinte am Sonnabend jeder Woche wegen der einsamen Sonntage mit dem Kind, weinte im Kino und in der Kirche. Meine Mutter, die weinende Frau.“
- Auch hier wieder der Vergleich von jetzt und früher,
- verbunden mit einer verallgemeinernden Interpretation.
- Als Leser hat man den Eindruck, dass sich hier Mitgefühl aufbaut. Das würde bedeuten, dass die Haltung der Ich-Erzählerin sich verändert – von der kritischen Gleichsetzung von eigener und jetzt mütterlicher Hilflosigkeit hin zu einem wachsenden Gefühl für das, was die Mutter als Erwachsene möglicherweise mehr an Leiden erfahren hat als die Ich-Erzählerin. Die führt nämlich nichts in dieser Richtung auf.
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- „Sie vereiste. Jahre strich sie mit ihren Eisfingern an meinem Hals entlang, über mein Gesicht, meine Arme wurden von ihren eisigen Händen umspannt, meine Kniekehlen geprüft beim Wachsen. Hinter meine Ohren schrieb sie mit ihren spitzen Nägeln, sie warf mir Eiszapfen vor die Füße, baute Gebirge zwischen uns, schneebedeckt. Jahre waren wir uns nicht grün. Ich war das Kind meines Vaters, der sie verlassen hatte, das sollte ich büßen, solange sie jung war, auch als sie älter wurde, büßte ich noch.“
- Hier wieder kritische Erinnerung
- und dann der Versuch, die Mutter zu verstehen und damit zumindest teilweise auch zu entschuldigen.
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- „Bring mich weg, sagt sie, ganz weit weg. Wohin? An den Strand, auf die Kurpromenade, in die Oper, Mutter? Sie lauscht, als wären da Klänge, ihr Blick fliegt durchs Zimmer. Weg, sagt sie wieder, weg.“
- Hier wird deutlich, dass sich die innere Haltung der Ich-Erzählerin immer mehr der Mutter mitfühlend nähert.
- Ihr Wunsch wird nicht nur ernsthaft aufgenommen, sondern sogar positiv gefüllt.
- Das merkt man an der Reaktion der Mutter.
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- „Aus dem Wegbringen wird nichts, ihr Doktor erscheint, steht in der Tür. Mit seinem Lächeln macht er es ihr leicht, das Wegbringen aufzu- schieben.“
- Erst im nachhinein wird deutlich, dass es sich hier um eine Schlüsselstelle handelt, die deutlich macht, dass die Ich-Erzählerin jetzt ganz bei ihrer Mutter ist, ja sie sogar versteht.
- Der Leser versteht erst später, dass das Lächeln des Doktors ein rein professionelles ist, das nichts anderes im Auge hat, als diese Frau in einem Krankenhaus in gewisser Weise zu „entsorgen“ – im Sinne von „sich keine Sorgen mehr machen müssen“ – aber eben ganz aus der Interessensicht des Doktors und der nur vermeintlichen der Mutter. Im Unterschied zur Tochter hat der Arzt nämlich anscheinend kein Verständnis für die wirklichen Wünsche dieser wohl todkranken Frau.
- Angedeutet wird, dass die Mutter jetzt daran arbeitet, nirgendwo mehr hin zu müssen.
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- „Bloß nicht weg, sagt sie. Ich bleibe hier. Sie können nicht hier bleiben, lächelt der Doktor. Sie brauchen medizinische Betreuung rund um die Uhr, Ihr Kreislauf, Ihr Herz. Schon gut, lächelt sie, ich bleibe bei meiner Tochter, meine Tochter wird bei mir sein, meine Tochter, Herr Doktor. Sie nennt mich ihre Tochter, sie zerbricht das Eis zwischen uns.“
- Nachdem die Ich-Erzählerin die medizinische Untersuchung des Arztes mit derselben distanzierten Genauigkeit beschrieben hat wie vorher das Leiden der Mutter, zitiert sie jetzt die klare Haltung der Kranken, die nicht weg will und sich auf ihre Tochter verlässt.
- Dabei zeigt sich auch eine Veränderung bei der Mutter, die nicht mehr vom „Kind“ spricht, sondern von ihrer „Tochter“, was von der Ich-Erzählerin so positiv aufgenommen wird, dass sie sogar sagen kann: „sie zerbricht das Eis zwischen uns“.
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- Im anschließenden Dialog mit der Mutter zeigt die Ich-Erzählerin ihre neuen Gefühle noch nicht, aber sie registriert das Lächeln, das es früher nie gab.
— - Im anschließenden Streit mit dem Doktor nimmt sie aber ganz eindeutig Partei für ihre Mutter:
„Ihr Wunsch, Doktor, ist mir wichtiger als ärztliche Vernunft. Ich bleibe bei ihr, wie sie es wünscht.“
Und sie reagiert auch, dass der Arzt jetzt nicht mehr lächelt, es geht jetzt nicht mehr um vordergründige Professionalität.
Die Tochter unterstützt anschließend den Wunsch ihrer Mutter:
„Fahren Sie meine Mutter an den Strand, auf die Kurpromenade, in die Oper, aber nicht ins Krankenhaus.“
— - Ganz sachlich wird anschließend wieder berichtet: Von dem Arzt, der sich über diesen Wunsch hinwegsetzt und den Krankenwagen ruft, aber auch von einer wohl entscheidenden Interaktion zwischen der Mutter und der Tochter. Diese erfüllt nämlich einen – wie sich herausstellt – letzten Wunsch der Mutter und reicht ihr einen Strohhalm: „sie knickt den Strohhalm und nickt mir zu.“
— - Am Ende wird auch ganz sachlich beschrieben, wie das medizinische Personal nur noch eine Tote vorfindet. Es bleibt offen, was zu diesem schnellen Tod geführt hat. Aber das ist für die Erzählung auch uninteressant. Entscheidend ist, dass sich im Moment der größten Gefahr einer Verschlimmerung der Situation der Mutter eine Annäherung zur Tochter ergeben hat. Beide haben einen Weg zurückgelegt, eine Veränderung der Haltung.
- Die Tochter hat erkannt und akzeptiert, dass ihre Mutter jetzt mehr leidet als sie früher.
- Vor allem aber ist ihr der Grund für ihr schlechtes Verhältnis bewusst geworden.
- Das hat es ihr ermöglicht, die Veränderung in der Haltung der Mutter ihr gegenüber positiv aufzunehmen, so dass am Ende die Gemeinschaft zwischen beiden entsteht, die vorher nicht möglich war.
- Die Tochter akzeptiert und versteht anscheinend, dass ihre Mutter das aus ihrer Sicht „schlechte“ Wegbringen nicht mehr ertragen will, wenn das „gute“ nicht mehr möglich ist und schließt mit ihrem Leben ab.
- Bei der Tochter hat man das Gefühl einer gewissen Genugtuung, dass der Arzt seinen Willen nicht mehr durchsetzen kann.
Zusammenfassende Klärung der Erzählhaltung und der Erzählperspektive
- Erzählhaltung:
Die Ich-Erzählerin zeigt insgesamt eine sehr sachliche, distanziert wirkende Haltung, - die aber verbunden wird mit Kommentierungen.
- Insgesamt bewegt sie sich im Verlauf der Kurzgeschichte innerlich auf ihre Mutter zu.
- Deshalb ist sie schließlich auch in der Lage, die Mutter zu verstehen und sie sogar zu unterstützen.
— - Erzählperspektive:
Es dominiert weitgehend eine äußerliche Erzählperspektive, die das wahrnimmt, was aktuell wichtig ist. - Daneben gibt es aber auch eine innerliche Erzählperspektive, die sich auf Vergangenes richtet.
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