Ferdinand von Saar, „Eisenbahnfahrt“ – Interpretationsansätze (Mat1767)

Ferdinand von Saar

Eisenbahnfahrt“

  • Die Überschrift ist sehr allgemein gehalten, man weiß als Leser nur, dass es entweder um eine bestimmte Eisenbahnfahrt geht.
  • Ohne aber es geht allgemein um das Phänomen des Fahrens mit der Eisenbahn

Eingeschlossen vom Waggon
Lehn‘ ich in der Ecke,
Und der Dampf trägt mich davon
Brausend auf der Strecke.

  • Gleich die erste Zeile setzt mit „eingeschlossen“ einen negativen Akzent, bei dem man noch nicht weiß, ob es sich um einen sprachlichen Missgriff handelt oder um ein absichtsvoll gesetztes Signal.
  • Die zweite Zeile nimmt der Atmosphäre allerdings etwas die Schärfe und die restlichen beiden Zeilen schreiben nur die Empfindungen, die man bei einer Fahrt mit der Eisenbahn haben kann.

In die Gegend rings hinaus
Blick‘ ich so im Fahren
Weithin breitet sie sich aus,
Blühend wie vor Jahren.

  • Die zweite Strophe weitet dann den Blick auf das, was draußen zu sehen ist.
  • Hervorzuheben ist der Eindruck der Nicht-Veränderung.
  • Also keine Rede zum Beispiel davon, dass man bedingt durch den Eisenbahnbau plötzlich auch die Rückseiten eigentlich schöner Häuserfronten zu sehen bekommt, die durchaus auch weniger gepflegt aussehen können.

Ob des Zuges Hast auch steigt,
Scheint er doch zu weilen,
Nur vor meinem Auge zeigt
Sich ein Flieh’n und Eilen.

  • Die dritte Strophe präsentiert dann den Gegensatz zwischen dem relativ statischen Gefühl, das man innerhalb des Zuges haben kann.
  • Und dem stark dynamischen dessen, was einem ein Blick durch das Fenster nach draußen präsentiert.

Dörfer, Felder, Wald und Au’n
Ziehn vorbei im Fluge,
Still, mit unverwandtem Schau’n,
Sinn‘ ich nach dem Truge.

  • In der vierten Strophe erscheint die Reihenfolge umgekehrt. Zunächst wird auf das hingewiesen, dass draußen auf eine neue, schnelle Art und Weise vorbeizieht.
  • Die zweite Hälfte der Strophe setzt dann einen eindeutig kritischen Akzent. Es ist von „Truge“ die Rede, also von einem Betrug.
  • Dieses scharfe Wort hätte man nicht verwenden müssen, wenn es nur um die Veränderung der Wahrnehmung der Wirklichkeit geht. Die hat man zum Beispiel auch beim Tauchen unter Wasser und niemand regt sich auf.

Und in tiefster Seele klar
Wird mir dieses Leben
Wo, was immer ist und war,
Scheint vorbei zu schweben.

  • In dieser Strophe verlässt das lyrische Ich seine konkrete Situation und die damit verbundene Wahrnehmung.
  • Stattdessen wird jetzt der Blick auf das ganze menschliches Leben ausgeweitet.
  • Dabei wird der Gedanke der Schnelligkeit übertragen, was eine Anspielung auf die Vergänglichkeit des Menschen in der Zeit sein kann.

Liebe, Glück und Jugendzeit,
Ach, sie alle weilen –
Nur der Mensch in Ewigkeit
Muss vorüber eilen.

  • In dieser Strophe werden Phänomene wie Liebe Glück und Jugendzeit scheinbar aus dem Zeitkontinuum mit seinem Phänomen des Verschwindens herausgenommen.
  • Dass es sich hier nicht um einen Versprecher handelt, sondern um echte Aussageabsicht, merkt man an den letzten beiden Zeilen. In denen wird nämlich der Gegensatz klar ausgedrückt: Die Lebensphänome als solche bleiben, der Mensch aber vergeht.
  • Ein besonders starkes künstlerisches Mittel ist, dass dem „vorüber eilen“ rein sprachlich die Ewigkeit zugeordnet wird. Das kann man hier nur als Ironie oder zumindest als ein Zeichen von Melancholie verstehen.
  • Man könnte es auch so zusammenfassen: der Mensch muss vergehen, aber das Vergehen ist ewig.

Insgesamt ein Gedicht,

  • das am Anfang etwas unklar ist in der Beurteilung der Situation und Bedeutung einer Eisenbahnfahrt.
  • Dann geht aber klar, dass es gar nicht um die Eisenbahn selbst geht, sondern um das Phänomen einer damals neuen Geschwindigkeit der Bewegung.
  • Die wird verwendet, um gewissermaßen auch das eigene Leben im Zeitraffer zu sehen. Damit erweist sich das Phänomen der Vergänglichkeit als entscheidend für die Aussage dieses Gedichtes.
  • In gewisser Weise erinnert dieses Gedicht an entsprechende lyrische Werke der Barockzeit. Der Unterschied besteht nur darin, dass hier ein eher melancholischer Ton sich durchsetzt und es auch keinerlei Hinweise gibt auf eine transzendente Aufhebung der Vergänglichkeit.

Wer noch mehr möchte …