Friedrich Schlegel und die „progressive Universalpoesie“ (Mat794)

Friedrich Schlegel und die „progressive Universalpoesie“

Im Folgenden wird versucht, einen der wichtigsten und zugleich schwierigsten Texte zur Literatur der Romantik so zu betrachten, dass die wichtigsten Aussagen und damit zugleich das Gesamtgebäude dieser Epoche sichtbar werden.

Es geht um das 116. der sog. Athenäums-Fragmente
Übrigens gehen wir selbst hier auch ganz romantisch vor, indem wir nur Hilfen zum Verständnis präsentieren. Wir nehmen also die Erlaubnis zum Fragmentarischen auch für uns in Anspruch – in der Hoffnung, uns dem richtigen Verständnis dann „progressiv“ zu nähern.
Dieses Schaubild fasst zusammen, was Rüdiger Safranskis Buch „Romantik. Eine deutsche Affäre“ zum Verständnis beiträgt.

Hier zunächst der Text, aufgegliedert

  1. „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen.
  2. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz poetisieren, und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen, und durch die Schwingungen des Humors beseelen. Sie umfaßt alles, was nur poetisch ist, vom größten wieder mehre Systeme in sich enthaltenden Systeme der Kunst, bis zu dem Seufzer, dem Kuß, den das dichtende Kind aushaucht in kunstlosen Gesang.
  3. Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Form, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors vollständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen Roman schreiben wollten, von ungefähr sich selbst dargestellt haben.
  4. Nur sie kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden.
  5. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.
  6. Sie ist der höchsten und der allseitigsten Bildung fähig; nicht bloß von innen heraus, sondern auch von außen hinein; indem sie jedem, was ein Ganzes in ihren Produkten sein soll, alle Teile ähnlich organisiert, wodurch ihr die Aussicht auf eine grenzenlos wachsende Klassizität eröffnet wird.
  7. Die romantische Poesie ist unter den Künsten was der Witz der Philosophie, und die Gesellschaft, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben ist.
  8. Andre Dichtarten sind fertig, und können nun vollständig zergliedert werden.  Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann.
  9. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen.
  10. Sie allein ist unendlich, wie sie allein frei ist, und das als ihr erstes Gesetz anerkennt, daß die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide.
  11. Die romantische Dichtart ist die einzige, die mehr als Art, und gleichsam die Dichtkunst selbst ist: denn in einem gewissen Sinn ist oder soll alle Poesie romantisch sein.“

Hier nun die Erläuterungen dazu

  1. Hier wird ein sehr weitgehender Anspruch proklamiert: Die romantische Poesie soll offensichtlich alles umfassen und ständig voranschreiten. Dann wird noch genannt, was Schlegel nicht ausreicht, nämlich alle Gattungen der Poesie zu vereinigen – und zugleich in eine Verbindung zu benachbarten Fächern zu bringen, die sehr viel weniger „fiktiv“ sind, sondern etwas zu tun haben mit Welterkenntnis und auch Weltbeherrschung durch das Wort.
  2. Hier wird genauer erklärt, was Schlegel der romantischen Poesie alles zutraut: Letztlich soll alles „poetisiert“ werden, was dazu überhaupt geeignet ist. Besonders interessant die Verbindung von „Bildungsstoff“ und „Humor“, was schon in die Nähe der romantischen Ironie gerät.
  3. Hier werden ein zentrales Problem der Poesie aufgezeigt, das Sich-Verlieren im Stoff, verbunden mit der noch nicht gelungenen Suche nach der idealen Form.
  4. Hier ein neuer, gewaltiger Anspruch, nämlich gewissermaßen das gesamte Zeitalter abzubilden.
  5. Schlegel glaubt, dass die Poesie „frei von allem realen und idealen Interesse“ sein könne. Außerdem kann sie „auf den Flügeln der poetischen Reflexion“ die Balance halten und zugleich diese Reflexion immer weiter potenzieren. Hier wird deutlich, dass es wirklich Gedanken sind, die eine Richtung geben, aber nicht umfassend gefüllt sind.
  6. Hier wird noch einmal auf die Bildung eingegangen – und zwar sowohl von außen nach innen als auch – für die Romantik sehr wichtig – von innen nach außen. Interessant ist, dass die Poesie auch „organisiert“, was eigentlich dem Fragmentarischen und Offenen widerspricht – wichtiger aber ist Schlegel wohl die Unendlichkeit des Immer-besser- und-umfassender-Werdens der Poesie.
  7. Hier wird zum einen Witz wohl im Sinne von Geistreich-Sein, zum anderen auch die positive Interaktion zwischen den Menschen zu zentralen Fähigkeiten erklärt.
  8. Hier taucht das Progressive, das ständige Werden auf, das für Schlegel die Poesie kennzeichnet.
  9. Hier wird deutlich, dass diese Art von Poesie gar nicht „durch eine Theorie erschöpft“, d.h. vollständig erfasst werden kann. Das wird in den Bereich des Göttlichen, also Überirdischen bzw. Übermenschlichen verschoben.
  10. Hier kommt das große Postulat der Freiheit, die mit der Unendlichkeit verbunden ist. Weit entfernt ist man von allen Gesetzen der Kunst, wie das für frühere Zeiten, besonders auch die Klassik kennzeichnend war.
  11. Hier wird abschließend die romantische Dichtkunst mit der Dichtkunst schlechthin verschmolzen, was man aber bei Schlegel aus heutiger Sicht schon vermutet hat.
Insgesamt macht es wenig Sinn und wäre auch nicht im Sinne Schlegels, aus diesem Fragment ein System, eine Theorie zu entwerfen.
Kennzeichnend ist letztlich die Totalität (im positiven Sinne) und unendliche Offenheit. Praktische Fragen der Verwirklichung werden weitgehend ausgeblendet.
Noch ein kleiner Tipp: Rüdifer Safranskis wunderbare Darstellung der Romantik geht ab S. 58 auch ausführlich auf Inhalt und Hintergründe dieses Poesieverständnisses ein.
Auf der Seite
sind wir genauer auf das Buch eingegangen, dort findet man zu diesem Thema wenigstens den Literaturhinweis. Genaueres werden wir noch ergänzen.
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Weiterführende Hinweise