Friedrich von Hagedorn, „Die Küsse“ – kreativ sein für die Gerechtigkeit (Mat4386)

Was dieses Gedicht so interessant macht

Im Folgenden wollen wir zeigen, wie man als heutiger Leser für Gerechtigkeit sorgen kann – in einem Gedicht aus dem 18. Jhdt.

Konkret: Durch eine Zusatzstrophe wird in einem Gedicht das übergroße Vertrauen einer Frau ausgeglichen durch Unvorsichtigkeit des Mannes in einer heißen Liebesnacht.

Die Überschrift

Friedrich von Hagedorn hat eine harmlos wirkende Überschrift gewählt: „Die Küsse“ – in Wirklichkeit geht es um viel mehr.

Strophe 1

Als sich aus Eigennutz Elisse
Dem muntern Coridon ergab,
Nahm sie für einen ihrer Küsse
Ihm anfangs dreißig Schäfchen ab.

  1. Gleich am Anfang des Gedichtes fällt der leichte Ton auf, in dem bei einer Beziehung von „Eigennutz“, in Kombination von einem munteren – wohl männlichen – Partner und dem „sich ergeben“ die Rede ist.
  2. Dazu sollte man wissen, dass es kurz vor Goethe eine besondere literarische Strömung gab, das sogenannte Rokoko. Wikipedia stellt sie uns so vor – und wir zerlegen sie mal in die wichtigsten Elemente:
    1. „eine Epoche der Frühaufklärung“,
    2. „noch stark von Schäferdichtung und dem Barock beeinflusst“
    3. nimmt „spielerische und auch erotische Elemente“ auf
    4. steht „andererseits jedoch durch ihre subjektive Gefühlsströmung der Empfindsamkeit nahe“
    5. zeigt zwar „Sinnenfreudigkeit“, aber auch  „eine individuell und rational begründete Erlebniswelt“
    6. „Tragik und Größe des Barock verflachen“
    7. Es treten „Vernunft, Zweckmäßigkeit, Wohlbehagen, goldenes Mittelmaß und Freude am grazilen Stil an die Stelle der Rätsel und Wunder des Jenseits.“
  3. „Eigennutz“ und Geschäftstüchtigkeit erlauben es der Frau, für einen Kuss, den sie gewährt, dem Gegenüber 30 Schäfchen abzunehmen – ein wahrlich teures Vergnügen.

Strophe 2

Am andern Tag erschien die Stunde,
Dass er den Tausch viel besser traf.
Sein Mund gewann von ihrem Munde
Schon dreißig Küsse für ein Schaf.

  • In der zweiten Strophe verändert sich dann das Tauschverhältnis sehr zu Ungunsten der Frau, denn die muss jetzt 30 Küsse für ein Schaf gewähren.

Strophe 3

Der dritte Tag war zu beneiden:
Da gab die milde Schäferin
Um einen neuen Kuß mit Freuden
Ihm alle Schafe wieder hin.

  • Noch schlimmer für sie wird es in der dritten Strophe, da gibt sie nämlich für einen einzigen Kuss (den sie also nicht mehr gewährt, sondern haben möchte) alle gewonnenen Schafe wieder hin.

Strophe 4

Allein am vierten ging’s betrübter,
Indem sie Heerd‘ und Hund verhieß
Für einen Kuß, den ihr Geliebter
Umsonst an Doris überließ.

  • Die negative Entwicklung setzt sich dann fort, denn in der nächsten Strophe gibt die Frau anscheinend alles auf, nur weil sie mit ansehen muss, wie ihr ehemaliger Kusspartner eine andere Frau küsst.

Zusammenfassung

  • Insgesamt scheint das ein Gedicht aus der Zeit des noch sehr jungen Goethe zu sein, man spricht von Anakreontik, das war eine Variante des Rokoko, in der es eben locker zuging zwischen Mann und Frau – meist in ländlicher Umgebung .
    Jetzt versteht man auch, warum hier mit Schafen bezahlt wird.

Kritik des Gedichtes aus heutiger Sicht

  • Man kann sich vorstellen, dass damals die Männer das ganz witzig fanden, dass eine Frau offensichtlich so sehr einem Mann verfallen ist, dass sie für ihn alles hin und sich am Ende anscheinend sogar selbst aufgibt.
  • Ihr Gegenüber scheint ein recht attraktiver, aber auch lockerer Geselle zu sein, der durchaus in der Lage ist, sich auch für einen recht teuren Preis erst mal an eine Frau heran zu machen, gewissermaßen ihren Widerstand zu überwinden, um sie dann hinterher viel billiger zu genießen und sie schließlich wie eine heiße Kartoffel fallen zu lassen.
  • So ein Gedicht zeigt hoffentlich nicht den heutigen Umgang im Umfeld von Küssen.

Kreative Antwort auf das Gedicht

  • Natürlich kann man ein modernes Gedicht schreiben, in dem eine Frau einem Mann verfällt. Für einen gewissen Ausgleich würde sorgen, wenn diese Frau am Ende doch die Oberhand behält. so könnte sie etwa ein für den Mann sehr problematisches Geheimnis, das er ihr in  einer Liebesnacht unbedacht verraten hat, bei der Polizei oder bei Gericht oder auch nur einfach in der Öffentlichkeit melden und dann ihrerseits die Schwierigkeiten genießen, die der Mann dadurch bekommt.
  • Konkret könnte eine nächste Strophe so aussehen, dass der Mann am nächsten Morgen ganz erstaunt ist, dass die Polizei bei ihm vor der Tür steht und sein Haus durchsucht und r dabei das ganze Diebesgut entdeckt, das er sich auf ähnlich geschickte Art und Weise angeeignet hat wie die Küsse dieser Frau.

Am fünften Tag dann war‘s vorbei
Zu viel hatt‘ er im Bett gesprochen
All das wusst‘ jetzt die Polizei.
Die Frau war jetzt nicht mehr gebrochen.

Es geht hier nicht um die Schönheit dieses Gedichtes – die Reime sind eine ständige und häufig unnötige Herausforderung – aber wir wollten es einfach mal probieren – und jetzt finden wir, dass diese Strophe doch zumindest einen Gegenpunkt zu der Aussage in den vorherigen Strophen darstellt – und somit wieder ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Partnern herstellt.

 Wer noch mehr möchte …