Gedichte zwischen „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ (Mat1958-gas)

Worum es hier geht:

Epochen sind nachträgliche Bemühungen um eine Einteilung. Es geht dann um Gedichte, die Wesentliches gemeinsam haben, was mit der geschichtlichen und vor allem kulturellen Entwicklung eines Zeitraums zu tun hat.

Auf der Seite
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haben wir Gedichte vorgestellt, die für die „Aufklärung“ typisch sind. Goethes „Prometheus“ am Ende gehörte schon in den Übergangsbereich des „Sturm und Drang“.

Hier listen wir neben diesem Gedichte noch weitere auf, bei denen jeweils erklärt wird, was an ihnen der Epoche der „Aufklärung“ zugeordnet werden kann und was dem „Sturm und Drang“.

Grundsätzliches:

Es ist absolut zutreffend, die Beziehung zwischen Aufklärung und Sturm und Drang nicht auf einen einfachen Gegensatz von Vernunft und Gefühl zu reduzieren. Tatsächlich liefen beide Epochen parallel und sind als Teile einer umfassenderen geistigen Entwicklung zu verstehen. Der Sturm und Drang kann sogar als eine Radikalisierung grundlegender Tendenzen der Aufklärung betrachtet werden. Beide Strömungen kritisierten beispielsweise die Dekadenz des Adels und die institutionalisierte Kirche, forderten Menschenrechte und riefen zu mehr Selbstständigkeit auf.

Hier sind Gedichte, die Elemente beider Epochen enthalten und so zu einem differenzierteren Verständnis ihres Verhältnisses beitragen:

Johann Wolfgang von Goethe – „Prometheus“ (1774)

◦ Sturm und Drang Elemente: Dieses Gedicht verkörpert das aufbegehrende Originalgenie, das sich den Göttern (symbolisch für absolutistische Obrigkeiten) widersetzt und seine eigene schöpferische Kraft betont. Prometheus‘ Weigerung, Zeus zu ehren („Ich dich ehren? Wofür?“), drückt die leidenschaftliche Ablehnung von Autoritäten und Regeln aus, die für die Stürmer und Dränger typisch war. Die ausdrucksstarke Sprache und die freien Rhythmen spiegeln die Abkehr von starren Formvorschriften wider.

◦ Aufklärerische Elemente: Die grundsätzliche Kritik am Feudalismus und an absolutistischen Machtstrukturen war ein Kernanliegen der Aufklärung. Die Aufklärung sah im Adel ein System, das der Vernunft widersprach und den Menschen in Unmündigkeit hielt. Obwohl „Prometheus“ diese Kritik mit emotionaler Wucht und einem Genie-Ideal vorträgt, wurzelt der Impuls zur Befreiung und zur Selbstbestimmung in den aufklärerischen Idealen.

◦ Beitrag zum Verständnis: „Prometheus“ zeigt, wie die aufklärerische Forderung nach Freiheit und Autonomie von der Sturm-und-Drang-Bewegung radikalisiert und mit starker emotionaler Intensität aufgeladen wurde. Es verdeutlicht, dass die Kritik an der Macht nicht nur rational begründet, sondern auch als existenzieller Kampf des Individuums empfunden wurde.

Ergänzung: Prometheus argumentiert rational, es kommen Emotionen hinzu, aber sein Grundproblem ist die Erfahrung beziehungsweise die Erkenntnis, dass er betrogen worden ist, indem er aus seiner Sicht das positive in seinem Leben und dessen Herkunft betrachtet.

Johann Wolfgang von Goethe – „Willkommen und Abschied“ (1771) und die „Sesenheimer Lieder“

◦ Sturm und Drang Elemente: Diese Gedichte sind paradigmatisch für die Erlebnislyrik. Sie rücken persönliche Gefühle, Erlebnisse und Stimmungen in den Mittelpunkt. Die Natur wird dabei nicht objektiv beschrieben, sondern als Spiegel der Empfindungen des lyrischen Ichs genutzt. Die Gedichte folgen „keinem Muster, sie sind keine Nachahmung oder Beschreibung der Gefühle“, sondern entstanden aus eigenem, persönlichen Erleben, was eine Absage an die Regelpoetik darstellt.

◦ Aufklärerische Elemente: Die starke Betonung des individuellen Erlebens und der persönlichen Entfaltung kann als Weiterentwicklung des aufklärerischen Gedankens vom mündigen und selbstbestimmten Individuum verstanden werden. Die Befreiung von literarischen Konventionen und der Mut, eigene Formen zu schaffen, spiegeln den aufklärerischen Appell wider, „Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ – hier auf das künstlerische Schaffen und das emotionale Leben übertragen.

◦ Beitrag zum Verständnis: Diese Werke illustrieren, dass die Aufklärung mit ihrem Fokus auf den Verstand den Weg für eine Bewegung ebnete, die diese individuelle Freiheit auf die Ebene des Gefühls und der persönlichen Erfahrung übertrug und vertiefte. Sie zeigen, dass die subjektive Emotionalität des Sturm und Drang nicht unbedingt im Widerspruch zur aufklärerischen Autonomie stand, sondern eine Erweiterung des Menschenbildes darstellte, das nun auch die volle emotionale Dimension des autonomen Individuums umfasste.

Hier geht es vor allen Dingen um die Überwindung und Schaffung neuer Formen der Dichtkunst. In dem Zusammenhang könnte man argumentieren, dass die Aufklärung im Bereich der Befreiung des Dichters von Vorgaben einen Übergang darstellt vom Barock zum Sturm und Drang. Und dann könnte man noch darauf hinweisen, dass in der Klassik dann eine gewisse Rückbildung wieder erfolgt. Da gibt es ein berühmtes Gedicht von Goethe, in dem er Den Kampf zwischen Freiheit und Form beschreibt.

Matthias Claudius – „Abendlied“ (Der Mond ist aufgegangen) (1779)

◦ Sturm und Drang/Empfindsamkeit Elemente: Das Gedicht ist geprägt von einem reichen Naturempfinden und einer innigen, volksliedhaften Tonalität. Es drückt persönliche Empfindungen und Stimmungen aus, die in der beobachteten Naturlandschaft widergespiegelt werden. Claudius gehört zur Empfindsamkeit, die als Strömung der Aufklärung das Gefühl betonte und eine Brücke zum Sturm und Drang schlug.

◦ Aufklärerische/Pietistische Elemente: Die Frömmigkeit und der religiöse Gehalt des Liedes verweisen auf den Pietismus, eine religiöse Strömung der Zeit, die persönliche Innerlichkeit und Gottesfurcht betonte. Die Betrachtung der Natur als Manifestation göttlicher Schöpfung und Ordnung ist ein Motiv, das im Kontext einer vernünftigen, von Gottesglauben geprägten Weltanschauung der Aufklärung stehen konnte.

◦ Beitrag zum Verständnis: „Abendlied“ demonstriert die fließenden Übergänge und Überlappungen zwischen Empfindsamkeit (als integriertem Bestandteil der Aufklärung) und Sturm und Drang. Es verbindet die intensive Natur- und Gefühlswahrnehmung des Sturm und Drang mit einer reflexiven, oft religiös geprägten Betrachtung, die der Aufklärung nicht fremd war. Es zeigt, dass Gefühl nicht im Widerspruch zur Vernunft stehen musste, sondern auch in eine aufgeklärte und fromme Weltanschauung integriert werden konnte.

Hier wird zum einen auf den Pietismus hingewiesen, der ja eine Art Gefühlsbrücke darstellt zwischen Aufklärung und Sturm und Drang. Prüfen müsste man noch genauer, inwiefern Elemente der Rationalität hier auch im Hintergrund stehen. Zu vermuten ist das, weil der Gottes Glaube der Aufklärung, also auch dieser Zeit, Sehr stark, rational begründet wurde. Die Frage ist nur, ob sich das ausreichend im Gedicht zeigt.

Ludwig Hölty – „Die Luft ist blau, das Tal ist grün“ (1772)

◦ Sturm und Drang/Empfindsamkeit Elemente: Das Gedicht drückt eine tiefe Freude an der Natur und der „schönen Welt“ aus, was typisch für die Gefühlsbetontheit und Naturverbundenheit im Sturm und Drang und der Empfindsamkeit ist. Der volksliedhafte Ton war ein Merkmal, das von Dichtern wie Herder gefördert wurde, um eine unmittelbare und natürliche Ausdrucksweise zu finden, die sich von der hochgestochenen Sprache absetzte.

◦ Aufklärerische Elemente: Die Erwähnung der „Gottes Vatergüte, Die diese Pracht Hervorgebracht“ weist auf eine vernünftige und göttliche Ordnung in der Natur hin. Dies verbindet die emotionale Bewunderung der Natur mit der Anerkennung eines Schöpfers, was auch im aufklärerischen Deismus oder Pietismus eine Rolle spielte. Die Einladung „Drum komme, wem der Mai gefällt, Und freue sich der schönen Welt“ kann als Appell an eine breitere Leserschaft verstanden werden, die auch aufklärerischen Bildungsidealen entsprach.

◦ Beitrag zum Verständnis: Dieses Gedicht illustriert, wie intensive emotionale Naturerfahrung (Sturm und Drang/Empfindsamkeit) und die Anerkennung einer göttlichen, geordneten Schöpfung (Aufklärung) nebeneinander existieren konnten. Es ist ein Beispiel dafür, wie das Gefühl nicht die Vernunft verdrängte, sondern sie um eine spirituelle und ästhetische Dimension erweiterte, die im Einklang mit einer aufgeklärten Weltsicht stand.

Auch hier das Nebeneinander von Sturm und Drang, verbunden mit dem Fin Sam4 und dem Hinweis auf die Vorstellung von einer rational erfassbare göttlichen Ordnung. Das ist wohl ein wichtiger Hinweis, der bei der Suche nach Rationalität nicht übersehen werden sollte.

Gottfried August Bürger – „Lenore“ (1773)

◦ Sturm und Drang Elemente: „Lenore“ ist eine Kunstballade mit lyrischer Form und dramatischen Elementen. Die Ballade zeichnet sich durch Gefühlstiefe, Bildersprache und volkstümliche Wortkraft aus. Die Darstellung einer extremen emotionalen Situation (Liebesleid, Sehnsucht nach dem gefallenen Bräutigam, Fahrt mit dem Untoten) und die Wahl eines schaurigen, übernatürlichen Themas entsprachen der Vorliebe des Sturm und Drang für das Intensive und Dramatische.

◦ Aufklärerische Elemente: Bürgers Absicht, „Volksdichtung im Sinne Herders“ zu schaffen, die „Unmittelbarkeit, Naivität im Sinne von Natürlichkeit, Einfachheit der Empfindungen“ beinhaltet, steht im Einklang mit dem aufklärerischen Ideal, Kunst und Bildung breiteren Schichten zugänglich zu machen. Seine „Sensibilität für soziale Wirklichkeit“ und der Wunsch, Bauern anzusprechen, zeigen eine gesellschaftskritische Ausrichtung und den Wunsch nach bürgerlicher Emanzipation, die auch Merkmale der Aufklärung waren.

◦ Beitrag zum Verständnis: „Lenore“ verbindet die emotional aufgeladene Intensität des Sturm und Drang mit aufklärerischen Zielen der Volkserziehung und der Überwindung elitärer Kunst. Die Ballade nutzte eine Form, die für alle Schichten verständlich war, um tiefgreifende menschliche Emotionen und existenzielle Fragen zu behandeln. Sie zeigt, dass die Sturm-und-Drang-Bewegung die aufklärerische Forderung nach bürgerlicher Emanzipation und sozialer Relevanz durch emotional aufgeladene und stilistisch innovative Formen umsetzte.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Vernunft und Gefühl im 18. Jahrhundert keine unüberwindbaren Gegensätze darstellten, sondern oft in einem dynamischen Verhältnis zueinander standen, sich gegenseitig beeinflussten und ergänzten. Der Sturm und Drang baute auf den Errungenschaften der Aufklärung auf, indem er die Freiheit des Individuums und die Kritik an gesellschaftlichen Normen mit einer neuen emotionalen Tiefe und Ausdruckskraft versah.

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